Ein süßes Abenteuer
du deinen Dialekt heute Abend wieder annehmen. Dann werden dich alle für einen Burschen vom Lande halten, der die Londoner Sehenswürdigkeiten besichtigt und sich erfolglos um eine weltmännische Art bemüht.” Flüchtig fragte sich Neville, wo er bloß gelernt hatte, solche Lügenmärchen zu erfinden. “Und ich”, fügte er hinzu, “bin offensichtlich ebenfalls kein Gentleman, sondern versuche nur, als einer durchzugehen, indem ich mich übertrieben elegant in Schale werfe – nach der Mode vom vorletzten Jahr, wohlgemerkt. Dennoch wird man mich willkommen heißen, sobald man bemerkt, dass ich in Geld schwimme.”
Nachdem sie sich somit gründlich vorbereitet hatten, brachen sie zu dem Bordell in der Nähe des Haymarkets auf. Dort verkehrte jedermann, von den weniger bedeutenden Mitgliedern der königlichen Familie, wie etwa Prinz Adalbert, bis hin zu ehrgeizigen Dieben. Mit ein bisschen Glück würden sie niemandem begegnen, der den korrekten Sir Neville Fortescue wiedererkennen könnte.
Am Haymarket verbreiteten die neuen Gaslaternen helles Licht. Da Neville diesen Teil der Stadt noch nie am späten Abend aufgesucht hatte, staunte er über das große Gedränge auf den Straßen. Schließlich standen sie vor der Eingangstür zu Madame Josettes Etablissement, die von zwei kräftigen Schlägern bewacht wurde.
Zu Lems Verblüffung begann sein Herr plötzlich, das Gehabe eines albernen Stutzers nachzuahmen, ja er spielte seine Rolle so überzeugend, dass die Türwächter sie beide sofort einließen. Drinnen wurden sie in ein Empfangszimmer geführt, das sich kaum von den Salons des Adels unterschied.
An den Wänden hingen schöne Gemälde, und am anderen Ende des Zimmers stand ein langer, mit Speisen und Getränken gedeckter Tisch. Ein hübsches Mädchen spielte auf dem Pianoforte, während mehrere Herren entspannt zuhörten. Kurz, alles zeugte von erlesenem Geschmack. Wenn man diese gesittete Umgebung betrachtete, konnte man sich kaum vorstellen, dass in demselben Haus junge Frauen zur Unzucht genötigt wurden.
Neville erkannte keinen der Besucher, abgesehen von einem stark angeheiterten Gentleman auf einem Sofa. Zufällig handelte es sich um einen bekannten Parlamentsabgeordneten von untadeligem Ruf, der häufig gegen die allgemein verbreitete Trunksucht und Sittenlosigkeit wetterte. Doch im Augenblick hatte Neville keine Zeit, sich über diese bodenlose Heuchelei zu ärgern.
“Was nun?”, raunte Lem.
“Abwarten”, murmelte Neville.
Da näherte sich ihnen eine stattliche Dame, nicht mehr ganz jung, doch gut aussehend und nach der neuesten Mode gekleidet. Nach einem argwöhnischen Blick auf die beiden Neuankömmlinge stellte sie fest: “Ich habe nicht das Vergnügen, Sie zu kennen, meine Herren.”
“Nein”, bestätigte Neville. “Wir kommen heute zum ersten Mal, weil ein Freund Sie uns empfohlen hat. Er rühmte Ihre Diskretion und sagte, dass Sie auch etwas ausgefallenere Wünsche erfüllen.”
“So, sagte er das? Und wie, bitte schön, heißt Ihr Freund, Sir?”
Mit einem verschwörerischen Lächeln raunte Neville ihr zu: “Das darf ich Ihnen leider nicht verraten. Auf jeden Fall hat er mir versichert, dass bestimmte … äh … Leiden überwunden werden können, wenn man über das richtige Heilmittel verfügt. Sie wissen schon.”
“Vielleicht – aber ich muss Sie warnen, dieses Heilmittel kostet eine Stange Geld.”
“Darauf hat er mich bereits aufmerksam gemacht, daher bringe ich eine entsprechende Summe mit. Genug, um sowohl Sie als auch mich selbst zufriedenzustellen.”
“Also gut. Aber bevor wir beide uns in meinem Geschäftszimmer unterhalten, Sir, müssen Sie mir zuerst Ihren Namen und den Ihres Begleiters nennen.”
“Selbstverständlich”, willigte Neville ein. Entsetzlich, wie mühelos mir die Lügen über die Lippen kommen, dachte er. Nun ja, Not kennt kein Gebot. Dann stellte er sich als John Wilkinson, Friedensrichter aus Barton Elms, Leicestershire, vor und Lem als seinen Cousin Leander Parks.
“Wenn wir nun in Ihr Geschäftszimmer gehen könnten, werde ich Sie für alle Dienste entlohnen, die Leander und ich wünschen”, fügte er hinzu, indem er ihr vertraulich zuzwinkerte. “Wir haben uns nämlich beide diesem Abenteuer verschrieben.”
Lem wahrte nur mit Mühe die Fassung, während er zusah, wie glänzend sein Herr die Rolle des Lüstlings spielte. Zu schade, dass er geschworen hatte, keiner Menschenseele von dieser Sache zu erzählen. Das bedeutete, dass
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