Ein Tag wie ein Leben
ich sie anschaute, fiel mir zum ersten Mal auf, dass sie meinem Blick
auswich und traurig den Kopf zur Seite neigte - und plötzlich stellte
ich fest, dass ich nicht mehr mit derselben Sicherheit sagen konnte,
ob sie mich noch liebte.
K
APITEL 1
Eis bricht einem Mann das Herz, wenn er sich fragen muss, ob ihn
die eigene Frau nicht mehr liebt. Nachdem Jane an jenem Abend mit
dem neuen Parfüm oben in unserem Schlafzimmer verschwunden
war, saß ich noch stundenlang auf der Couch und grübelte, wie es so
weit hatte kommen können. Zuerst versuchte ich mir einzureden,
dass Jane einfach nur extrem empfindlich reagiert hatte und ich die
Situation falsch interpretierte. Aber je mehr ich nachdachte, desto
deutlicher wurde es mir: Sie war nicht nur von ihrem vergesslichen,
unaufmerksamen Ehemann enttäuscht. Da war noch etwas anderes.
In ihr verbarg sich eine tiefe Melancholie, die sich über längere Zeit
hinweg entwickelt haben musste - dass ich nicht an den Hochzeitstag
gedacht hatte, war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen
brachte. Es war der letzte in einer langen Reihe gedankenloser Fehltritte.
Hielt Jane unsere Ehe für gescheitert? Diese Frage hätte ich lieber
verdrängt, weil ich mir beim besten Willen nicht vorstellen mochte,
dass sie so empfand. Aber hatte ihr Gesicht nicht genau dies ausgedrückt?
Und was bedeutete das für unsere Zukunft? Überlegte sie sich etwa,
ob sie wirklich bei mir bleiben sollte? Fand sie es überhaupt noch
gut, dass sie mich geheiratet hatte? Ich muss hinzufügen, dass mir all
diese Fragen entsetzliche Angst einjagten - aber noch mehr fürchtete
ich mich natürlich vor den Antworten. Bis dahin war ich nämlich
immer davon ausgegangen, dass Jane mit mir genauso glücklich war
wie ich mit ihr.
Was war geschehen? Warum entwickelten sich unsere Gefühle
plötzlich voneinander weg?
Vielleicht muss ich an dieser Stelle erst einmal ein paar Sachverhalte klären und zu einem kleinen Exkurs ausholen. Ich glaube, die
meisten Leute würden unser Leben als relativ durchschnittlich und
normal bezeichnen. Als Ehemann bin ich der Ernährer und sichere
den finanziellen Unterhalt der Familie. In meinem Leben dreht sich
so gut wie alles um mein berufliches Weiterkommen. Ich arbeite seit
dreißig Jahren in der Anwaltskanzlei Ambry, Saxon & Tundle in
New Bern, North Carolina. Zwar verdiene ich keine astronomischen
Summen, aber doch genug, um mit Fug und Recht sagen zu können,
dass wir zur gehobenen Mittelschicht gehören. Am Wochenende
spiele ich Golf und kümmere mich um den Garten. Ich höre am liebsten klassische Musik und lese jeden Morgen die Zeitung.
Jane arbeitete früher als Grundschullehrerin, aber seit unserer Heirat war sie vor allem für die drei Kinder da. Sie ist sowohl für den
gesamten Haushalt als auch für unser gesellschaftliches Leben zuständig. Ihr ganzer Stolz sind die wunderschönen Fotoalben, in denen
sie liebevoll unser Leben dokumentiert. Wir wohnen in einem hübschen Backsteinhaus mit Holzzaun, automatischem Rasensprenger
und allem, was dazugehört. Wir besitzen zwei Autos und sind Mitglied bei den Rotariern und im Club für Handel und Touristik. Seit
wir verheiratet sind, legen wir regelmäßig jeden Monat etwas fürs
Alter zurück. Wir haben hinten im Garten eine Holzschaukel aufgestellt, die längst niemand mehr benutzt, wir waren bei Dutzenden von
Elternabenden, wir gehen immer brav zur Wahl und jeden Sonntag in
die Kirche. Ich bin sechsundfünfzig, drei Jahre älter als meine Frau.
Ich liebe Jane, aber manchmal denke ich, wir sind doch ein sehr
ungleiches Paar. Wahrscheinlich hätte kein Mensch erwartet, dass
ausgerechnet wir zwei das Leben gemeinsam verbringen würden.
Wir sind so verschieden! Es heißt ja immer, Gegensätze ziehen sich
an, aber ich bin fest davon überzeugt, dass ich an unserem Hochzeitstag den besseren Teil erwählt habe. Jane ist genau der Mensch,
der ich gern wäre. Ich bin in der Regel sehr rational und neige zu
nüchterner Logik, während Jane immer nett und umgänglich ist - sie
geht auf andere Leute zu und strahlt eine Wärme aus, mit der sie alle
Herzen für sich gewinnt. Sie lacht oft und gern und besitzt einen großen Freundeskreis. Im Laufe der Zeit habe ich gemerkt, dass meine
Freunde größtenteils die Männer der Freundinnen meiner Frau sind,
aber ich nehme an, in unserem Alter ist das bei den meisten Ehepaaren der Fall. Allerdings habe ich insofern Glück, als Jane ihre
Weitere Kostenlose Bücher