Ein Tag wie ein Leben
aber
beim Klang meiner Schritte verstummten sie sofort. Und wenn ich
mich später bei Jane erkundigte, worüber sie gesprochen hätten,
zuckte sie nur die Achseln und machte eine vage Handbewegung, als
hätten sich die beiden verschworen, mich nur ja im Unklaren zu lassen.
Aber als unsere Erstgeborene war Anna immer mein Liebling. Das
würde ich zwar nie und nimmer öffentlich zugeben, aber ich glaube,
sie weiß es, und in letzter Zeit denke ich öfter, dass sie mir auch in
jenen stummen Jahren viel Zuneigung entgegenbrachte - viel mehr,
als ich damals wahrnahm. Ich kann mich erinnern, wie sie gelegentlich in mein Arbeitszimmer spazierte, während ich irgendwelche
Treuhandverträge oder Testamente studierte. Sie ging dann im Raum
auf und ab, betrachtete die Bücher in den Regalen, nahm ab und zu
eins in die Hand, aber sobald ich den Mund aufmachte, verschwand
sie genauso wortlos wieder, wie sie gekommen war. Im Laufe der
Zeit gewöhnte ich mir an, gar nichts zu sagen, und so konnte es geschehen, dass sie eine geschlagene Stunde dablieb und zuschaute,
wie ich mir Notizen machte. Wenn ich ihrem Blick begegnete, lächelte sie mir komplizenhaft zu. Dieses Spiel bereitete uns beiden
aus irgendeinem Grund großes Vergnügen. Zwar begreife ich bis
heute nicht, was damals in ihrem Kopf vor sich ging, aber die Erfahrung hat sich tief in mein Gedächtnis eingegraben.
Zurzeit arbeitet Anna bei einer Zeitung namens Raleigh News and
Observer, aber ich glaube, sie träumt davon, Schriftstellerin zu werden und Romane zu schreiben. Am College hat sie Kreatives Schreiben studiert, und die Geschichten, die sie für ihre Seminare verfasste,
waren so düster wie ihre ganze Persönlichkeit. Ich erinnere mich vor
allem an eine, in der sich eine junge Frau prostituiert, um für ihren
kranken Vater sorgen zu können, der sie früher missbraucht hat. Als
ich die Seiten aus der Hand legte, war ich ziemlich verwirrt und
wusste nicht, was ich davon halten sollte.
Außerdem ist Anna gerade das erste Mal richtig verliebt. Da sie ihre Entscheidungen immer sehr umsichtig trifft, war sie auch in Bezug
auf Männer ausgesprochen wählerisch, und zum Glück hatte ich bei
Keith von Anfang an den Eindruck, dass er nett ist und ihr gut tut. Er
will Orthopäde werden und besitzt das Selbstbewusstsein eines Menschen, der im Laufe seines Lebens schon einige Rückschläge überwinden musste. Von Jane habe ich erfahren, dass Keith bei der ersten
Verabredung mit Anna am Strand in der Nähe von Fort Macon Drachen steigen ließ. Wenig später brachte Anna ihn mit nach Hause.
Keith trug ein Sportjackett und hatte offenbar gerade geduscht, denn
er roch dezent nach Eau de Cologne. Als wir uns die Hand gaben,
schaute er mir fest in die Augen und sagte mit überzeugender Stimme: »Ich freue mich sehr, Sie kennen zu lernen, Mr. Lewis.«
Joseph, unser Zweiter, ist ein Jahr jünger als Anna. Er nennt mich
immer nur »Pop«, was sonst niemand in der Familie tut, und auch
mit ihm verbinden mich wenig Gemeinsamkeiten. Er ist größer und
schmaler als ich, trägt zu sämtlichen Anlässen immer nur Bluejeans,
und wenn er an Thanksgiving oder Weihnachten nach Hause kommt,
isst er ausschließlich Gemüse. Er war ein stilles Kind und ein wortkarger Jugendlicher, aber wie bei Anna richtete sich seine mangelnde
Mitteilsamkeit vor allem gegen mich. Andere Leute sagen oft, er sei
sehr humorvoll, aber davon habe ich, ehrlich gesagt, bisher nicht viel
gemerkt. Wenn wir zusammen sind, kommt es mir jedes Mal so vor,
als würde er immer noch versuchen, sich irgendwie ein Bild von mir
zu machen.
Genau wie Jane ist er unglaublich sensibel und einfühlsam. Das
wurde schon deutlich, als er noch ein kleines Kind war: Mit fünf begann er, an den Nägeln zu knabbern, weil er sich so sehr um andere
Menschen sorgte. Das tut er bis heute, er hat ganz stumpfe Fingerkuppen. Ich brauche vermutlich nicht zu erwähnen, dass er meinen
Rat, Betriebs- oder Volkswirtschaft zu studieren, nicht annahm. Er
hat sich stattdessen für Soziologie entschieden. Heute arbeitet er in
einem New Yorker Frauenhaus, erzählt uns aber so gut wie nichts
von seinem Job. Ich weiß, dass ihm viele der Entscheidungen, die ich
im Laufe meines Leben getroffen habe, fragwürdig erscheinen, und
mir geht es umgekehrt mit ihm genauso. Doch trotz dieser Differenzen führe ich mit Joseph genau die Gespräche, die ich schon immer
mit meinen Kindern führen wollte - seit ich sie als Babys in
Weitere Kostenlose Bücher