Ein Tag wie ein Leben
den Armen hielt. Er ist hochintelligent, er hat die Schule mit dem bestmöglichen Notendurchschnitt abgeschlossen, und seine Interessen sind
breit gestreut, sie reichen vom Dharma in indischen Religionen bis
zu den Anwendungen der Fraktalgeometrie. Außerdem ist er ausgesprochen ehrlich - gelegentlich so extrem, dass es an Taktlosigkeit
grenzt -, und dieser Aspekt seiner Persönlichkeit hat zur Folge, dass
ich bei Diskussionen mit ihm automatisch den Kürzeren ziehe. Obwohl mich seine Sturheit und Konsequenz manchmal frustrieren, bin
ich in solchen Momenten doch auch besonders stolz darauf, dass er
mein Sohn ist.
Leslie, unser Küken, unser Nesthäkchen, studiert am Wake Forest
College Biologie und Physiologie und möchte Tierärztin werden. Im
Sommer kommt sie im Gegensatz zu den meisten Studenten nicht
nach Hause, sondern belegt zusätzliche Kurse, um schneller fertig zu
werden, und nachmittags arbeitet sie immer für eine Institution mit
dem schönen Namen »Animal Farm«. Sie ist umgänglicher als die
anderen beiden, und ihr Lachen klingt ähnlich ansteckend wie das
von Jane. Leslie kam früher auch oft in mein Arbeitszimmer, genau
wie Anna, aber sie war am glücklichsten, wenn ich mich ihr dann
ganz und gar widmete. Als kleines Kind ist sie immer auf meinen
Schoß geklettert, um mich an den Ohren zu ziehen. Später machte sie
sich einen Spaß daraus, mir irgendwelche albernen Witze zu erzählen. Auf meinen Regalen stehen lauter Geschenke, die sie mir im
Laufe der Jahre gemacht hat: Gipsabdrücke ihrer Handflächen, Buntstiftzeichnungen, eine Halskette aus Makkaroni. Sie macht es ihrer
Umgebung leicht, sie zu lieben. Sie ließ sich immer als Erste von den
Großeltern küssen und drücken, und sie kann sich auch heute noch
genüsslich auf die Couch kuscheln und einen schmalzigen Liebesfilm ansehen. Ich war nicht überrascht, als sie vor drei Jahren in der
Highschool beim großen Abschlussball zur Homecoming Queen gewählt wurde.
Vor allem aber hat sie ein unglaublich gutes Herz. Zu ihren Geburtstagspartys lud sie immer die ganze Klasse ein, weil sie niemanden kränken wollte. Und mit neun ist sie eines Nachmittags am
Strand von Handtuch zu Handtuch gewandert, weil sie eine Armbanduhr gefunden hatte, die sie unbedingt dem Besitzer zurückgeben
wollte. Von meinen Kindern hat Leslie mir am wenigsten Anlass zur
Beunruhigung gegeben, und wenn sie nach Hause kommt, lasse ich
alles stehen und liegen, weil ich Zeit für sie haben will. Ihre Energie
ist so erfrischend, und wenn wir zusammen sind, frage ich mich oft,
womit ich eine so charmante Tochter verdient habe.
Jetzt, da alle drei Kinder ausgezogen sind, hat sich die Atmosphäre
im Haus vollkommen verändert. Wo früher wummernde Bässe durch
die Wände dröhnten, herrscht heute absolute Stille. In unserer Vorratskammer, in der sich noch vor ein paar Jahren alle möglichen
Corn-Flakes-Sorten stapelten, findet sich inzwischen nur noch eine
einzige - ohne Zucker und mit zusätzlichen Ballaststoffen. Die Möbel in den Zimmern unserer Kinder sind noch dieselben wie früher,
aber weil Poster, Pinnwände und überhaupt alle persönlichen Gegenstände verschwunden sind, unterscheiden sich die Räume kaum
noch voneinander. Am schlimmsten ist allerdings das Gefühl der
Verlassenheit, das sich jetzt über alles breitet. Für eine fünfköpfige
Familie war unser Haus ideal. Heute jedoch kommt es mir oft vor
wie eine leere Hülse, die uns ständig daran erinnert, wie schön es
früher einmal war. Hat Janes eigentümliches Verhalten vielleicht
auch etwas mit diesen Veränderungen zu tun?
Doch nun zurück zu meiner Geschichte.
Gleichgültig, was dahinter steckte - die Tatsache, dass Jane und ich
uns immer weiter voneinander entfernten, konnte niemand leugnen,
und je mehr ich darüber nachdachte, desto deutlicher sah ich, wie tief
die Kluft zwischen uns war. Wir hatten als Paar begonnen und uns
dann in Eltern verwandelt - ein Prozess, den ich eigentlich für normal
und unvermeidlich gehalten hatte. Doch jetzt, nach neunundzwanzig
Jahren, begegneten wir uns beinahe wie zwei Fremde. Nur das Ritual
der Gewohnheit schien uns noch zusammenzuhalten. Wir führten
völlig separate Leben, es gab kaum noch etwas, was uns miteinander
verband - unsere Wecker klingelten zu verschiedenen Zeiten, tagsüber sahen wir uns so gut wie nie, und abends gingen wir unseren
jeweiligen Verpflichtungen nach. Oft wusste ich gar nicht, wie Janes
Tag aussah, und
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