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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Ndiaye
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vorstellen kann«, verkündete der Vorsteher, der jetzt hinter seinem Schreibtisch saß.
    »Sie können wahrscheinlich nicht viel für mich tun.«
    »Mehr, als Sie denken, viel mehr.«
    Herman verzeichnete unwillkürlich, daß die Fotosder Gegend, die an den Wänden hingen, alle im Sommer aufgenommen worden waren. Da gab es nichts als Kühe, Wiesen, bewaldete sanfte Hügel, Himmel ohne jeden Wolkenfetzen.
    Der Vorsteher fuhr fort, weiterhin lebhaft, mit einem etwas abstrakten Interesse an Herman: »Als erstes werde ich zusehen, daß der Bürgermeister von Ihrem Mißgeschick erfährt, will sagen, bevor Sie an der Reihe wären, offiziell mit ihm in Kontakt zu treten – das ist weniger einfach, als es scheinen mag, glauben Sie mir, aber nun, ich werde tun, was ich kann. Wobei das eine reine Formalität ist, es wird Sie beruhigen, weiter nichts. Der Bürgermeister wird mit ernster Miene zuhören, Befehle erlassen und Versprechungen machen, aber in Wirklichkeit wird sich nichts bewegen, in Ihrer derzeitigen Position kann sich gar nichts bewegen.«
    »Aber es ist eine sehr ernste, dringende Angelegenheit«, wiederholte Herman, am Ende seiner Geduld und seines Verständnisses.
    »Das wird ihm sofort klar sein, keine Sorge. Unser Bürgermeister ist ein hochintelligenter Mensch, eine Art Gelehrter, müssen Sie wissen. Nein, das ist nicht die Frage. Die Frage ist auch nicht, ob er Macht über die verschiedenen Behörden der Gemeinde hat oder nicht. Tatsächlich kann unser Bürgermeister so ziemlich alles veranlassen, was er will, Untersuchungen, Nachforschungen, den Einsatz zahlreicher und kompetenter Leute. Er kann zumindest alle Mittel bekommen, die er fordert, aber was die Ergebnisse angeht, so ist das etwas ganz anderes, verstehen Sie.«
    »Nein, ich verstehe überhaupt nichts, das ist doch eine Zumutung.«
    »Das Ergebnis hängt von Ihnen ab, mein Lieber, das müssen Sie sich ganz klarmachen.«
    Zugleich besorgt und erfreut, frohlockend und ernst schlug der Vorsteher mit der flachen Hand auf den Tisch. Herman ahnte undeutlich, daß sein Gesprächspartner hier endlich Gelegenheit fand, eine Art begierig angehäuftes Wissen zum Einsatz zu bringen, und daß es ihn wahrscheinlich seinerseits, wenn er es wollte, wenig Mühe kosten würde, seine Freundschaft zu gewinnen. Diese Vorstellung widerstrebte ihm jedoch, auch wenn er inzwischen bereit gewesen wäre, sich mit sonst wem einzulassen, wenn es seinen Zwecken diente.
    »Was muß ich also tun?« murmelte er.
    »Nun«, antwortete sein Gegenüber mit schlauer, listiger Miene, »das Ziel unserer Strategie, wenn ich so sagen darf, besteht darin, Ihre Familie wiederzufinden oder genug Hinweise zu sammeln, um dies zu tun. Gut. Wie gehen Sie vor? Ziehen Sie los und verhören die Bewohner, bauen Sie sich mit ihrem Pariser Gesicht vor ihnen auf und fragen sie, was sie wissen? Nein! Ich kenne diese Gegend, man ist hier überaus höflich, Fremden gegenüber aber nur auf die alleroberflächlichste Weise hilfsbereit. Sie werden viel Geduld brauchen, viel Fingerspitzengefühl, Sie werden versuchen müssen, unauffällig im Dorfleben aufzugehen, selbst zu einem Dorfbewohner zu werden, unsichtbar, unbedeutend, und vor allem vergessen zu lassen, daß Sie ein Pariser außerhalb der Saison sind, das heißt ein ungebetener Gast, der theoretisch nicht zu sehen hat, was ihn nicht das geringste angeht, was ihn nie interessiert hat und worüber man ihn lieber in Unkenntnis läßt, nämlich das lange, frühlingslose Winterleben, das hier gleich im September beginnt.«
    »Aber wie lange wird das dauern?« fragte Herman entgeistert.
    »Oh, sicher eine ganze Weile. Wie könnten Sie innerhalb von zwei Tagen in eine völlig neue Haut schlüpfen?«
    »Ich kann nicht warten! Die Polizei …«
    »Ich sage Ihnen, die Polizei wird nur so tun, als würde sie suchen. Sie selbst werden Ihre Angehörigen wiederfinden, vorerst wird das niemand hier für Sie übernehmen wollen, nicht einmal der Bürgermeister.«
    »Was für eine widerwärtige Gegend!« rief Herman.
    »Niemand wird Ihnen das sagen, aber die Pariser sind verhaßt.«
    Beinahe stolz lehnte sich der Vorsteher in seinem Stuhl zurück.
    »So wie ich vor Ihnen stehe, war ich selbst einmal einer, genau wie Sie. Dann hat der Zufall es gewollt, daß ich hier in den Herbst geraten bin, vor etwa fünfzehn Jahren, und ich bin geblieben. Es ist so gut gelaufen, daß ich es zum Vorsteher des Fremdenverkehrsamtes und zum Leiter des Festkomitees gebracht habe, und

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