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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Ndiaye
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mit Verlegenheit und Reue durchsetzten Haß auf den Vorsteher.
    Als Charlotte eintraf, wachte er auf. Sie streckte ihm lässig die Hand entgegen.
    »Du hast aber auf dich warten lassen«, bemerkte der Vorsteher.
    Sie zuckte mit den Achseln. Er kniff sie unsanft in die Wange und lachte übertrieben wohlwollend. Aus Charlottes blaßrosigem Gesicht sprach nichts als Gleichgültigkeit. Sie hatte Herman kaum angeschaut, als sie ihn grüßte.
    »Sag deiner Mutter, sie soll meinem Freund Zimmer zwölf geben, direkt neben meinem«, ordnete der Vorsteher an. »Er wird in Vollpension bei euch wohnen, wie ich.«
    Ja, und wieviel wird mich das kosten? dachte Herman, plötzlich aus seiner Benommenheit gerissen.
    »Gut, bis heute abend.«
    »Also, kommen Sie mit?« fragte Charlotte, als Herman keine Anstalten machte aufzustehen.
    Er sprang auf und folgte ihr in den nach wie vor verlassenen, stillen Flur, und seine Müdigkeit ließ nach, sein Unbehagen verflog, sobald die Tür des Vorstehers sich hinter ihnen geschlossen hatte. Obwohl er den Weg kannte, wagte er es nicht, Charlotte zu überholen oder neben ihr zu gehen. Er spürte im übrigen, daß er zumindest vorläufig gut daran tat, jedem gegenüber, der sich um ihn kümmerte, völlige Ergebenheit zur Schau zu tragen. Allerdings hatte er das dringende Bedürfnis, die Äußerungen des Vorstehers richtigzustellen.
    »Wissen Sie, was er auch sagen mag, ich bin nicht sein Freund, keineswegs«, flüsterte er mit einem gezwungenen Lachen.
    In dem Moment kamen sie am Versammlungssaal der Kaufleute vorbei. Herman blieb abrupt stehen.
    »Sind sie immer noch da?«
    »Natürlich, bis mittags«, antwortete Charlotte überrascht. »Heute leitet Papa die Sitzung.«
    »Ach, Ihre Eltern gehören auch dazu.«
    Gegen seinen Willen war er beeindruckt. Das junge Mädchen wurde in seinen Augen plötzlich interessanter, und dies nicht nur, weil der Vorsteher ihm gesagt hatte, er würde seine Familie sicher mit Hilfe der Kaufleute wiederfinden. Tatsächlich fiel ihm diese Vorhersage gar nicht gleich wieder ein.
    »Sie wollen nicht als sein Freund betrachtet werden«, sagte Charlotte nach einer Pause, »aber er scheint es sehr gut mit Ihnen zu meinen.«
    Herman antwortete nicht. Er brannte darauf zu erfahren, worüber nebenan, im großen Saal, geredet wurde, und er hielt sich mit größter Mühe zurück, Charlotte auszufragen. Sie ging in ihrem langsamen, fast trägen Schritt weiter, einem ganz anderen Gang als der nervöse, entschiedene der Empfangsdame, die Herman in die andere Richtung geführt hatte. Er bemerkte, daß sie unter der rosa Strickjacke die traditionelle Bluse trug, tatsächlich ohne Bänder, dazu verschlissene, schmutzige Jeans und dicksohlige Turnschuhe. Ihr Haar war zu zwei Zöpfen geflochten und von dem gleichen weißlichen Blond, das, wie Herman schien, an allen Köpfen des Dorfes und der Gegend zu sehen war. Was den ebenfalls blonden Vorsteher anging, so war es Herman vorgekommen, als sei sein Haar gefärbt, ohne daß er jedoch versucht hätte, dies durch eine genauere Betrachtung zu überprüfen.
    Tja, und ich, wenn ich ein echter Dorfbewohnerwerden soll …, sagte sich Herman, der dunkles Haar hatte.
    Er bemühte sich zu grinsen, doch eine dumpfe Besorgnis verunsicherte ihn.
    »Nun sagen Sie mir, worüber reden sie denn bei diesen Versammlungen? Sie müssen das doch wissen.«
    »Sie reden über Geschäftliches. Was interessiert Sie das?«
    »Sind Sie stolz, daß Ihre Eltern dazugehören?«
    Sie zuckte mit den Achseln, ohne sich umzudrehen. Ihre Stimme war ebenso matt wie ihr Schritt, ihr Ton etwas schwerfällig.
    Dieses Mädchen ist zurückgeblieben, das ist alles.
    Aber daß Charlottes Vater gerade heute die Versammlung der Kaufleute leitete und daß zudem der Vorsteher den Umstand betont hatte, sie habe weder Bänder noch Hoffnung darauf – auch wenn er sich über diese Reden geärgert hatte –, diese beiden Informationen machten ihn für den Gedanken eines eventuellen näheren Umgangs mit dem Mädchen doch empfänglicher, als er dachte.
    Warum hat sie wohl keinen Freund, in ihrem Alter, mit ihrem netten Gesicht? Und die andere, die Empfangsdame? Oh, sie werden mir helfen können, dachte Herman, jede aus ihrer Position heraus. Ich muß sie so schnell wie möglich ins Bild setzen.
    Sie stiegen die gewundene Treppe hinab und fanden sich in der Eingangshalle wieder, wo genau in dem Moment die Empfangsdame mit den athletischen Waden vorbeiging. Sie runzelte die Stirn und kam

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