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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Ndiaye
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finden, daß ihnen auch von den nebulösesten Ereignissen im Dorf nichts entgeht. Wer weiß, vielleicht reden sie genau in diesem Moment über Sie?«
    Der Vorsteher brach in fröhliches Gelächter aus. Herman erschauerte.
    Also gut, gehen wir, dachte er, ohne sich jedoch zu rühren, als würden ihn die Müdigkeit und die dunkle Furcht davor, was ihn draußen erwartete, an seinen Stuhl fesseln.
    Aber sein Gastgeber erhob sich, baute sich vor ihm auf und nahm Hermans Hand zwischen seine von langen, dichten Haaren verdunkelten Pranken.
    »Ich bin Ihnen unendlich dankbar für die Gelegenheit, die Sie mir bieten«, sagte er mit wirklich bewegter Stimme, »die Gelegenheit, in eine edle Rolle zu schlüpfen, diejenige, Sie zu führen und alle Beobachtungen zu erproben, die ich seit fünfzehn Jahren hier anstelle. Ich bitte Sie, enttäuschen Sie mich nicht, seien Sie mir gewissermaßen treu. Seien Sie gefügig, lernen Sie, üben Sie. Nichts ist hier so, wie Sie es von Paris her kennen, man redet anders, es herrschen andere Sitten und Gesetze. Ich bedaure nichts. Was für ein gutes Leben habe ich mir hier aufgebaut!«
    Die in eine Cordhose gezwängten Oberschenkel des Vorstehers zuckten wie von einer etwas nervösen Lust. Jeder von ihnen allein war dicker als Hermans beide Oberschenkel zusammen, die übermäßig dünn und zart unter dem Leinen seines Sommeranzugs zu erahnen waren. Herman rang in dem schlecht belüfteten kleinen Raum nach Atem. Die Inbrunst des Vorstehersbereitete ihm Beklemmungen. Noch nie hatte irgend jemand ihm mit so viel Wärme und Rührseligkeit die Hand gedrückt, noch nie war ihm jemand, ohne ihn sehr gut zu kennen, so nahe gekommen, Knie an Knie, denn die zurückhaltende Art Hermans, des Mathematiklehrers, leistete solchen Ausbrüchen eigentlich kaum Vorschub.
    Also gut, verschwinden wir, beschloß er.
    Er befreite seine Hand, stand endlich auf. Seine Beine zitterten vor Müdigkeit. Der Vorsteher ging rückwärts bis zu seinem Schreibtisch, ohne sein vertrauensvolles, fürsorgliches Lächeln abzulegen, und es kam Herman vor, als habe er seine Erschöpfung bemerkt und sei darüber erfreut. Er nahm den Telefonhörer ab.
    »Meine kleine Charlotte, die jüngste Tochter des Hotel du Relais, wird Sie hier abholen«, sagte er augenzwinkernd.
    »Ach, warum denn das?«
    »Nun, Sie werden gleich heute morgen ein Zimmer nehmen, und dann sehen wir weiter.«
    »Ich habe erst einmal andere Dinge zu tun«, erwiderte Herman in gereiztem Ton.
    »Nein, was wollen Sie denn machen? Ich habe Ihnen doch erklärt, es wird Ihnen nicht gelingen, den Bürgermeister zu treffen, und es ist sinnlos, bei der Polizei anzuklopfen. Sie müssen ganz einfach mit IhremLeben als Dorfbewohner beginnen. Also brauchen Sie ein Zimmer.«
    »Ich kann allein zum Relais gehen.«
    »Es wird einen hervorragenden Eindruck machen, wenn Sie sich von Charlotte hinführen lassen«, entschied der Vorsteher. »Wenn klar ist, daß Sie von hier kommen, wird man Ihnen keine Fragen stellen. Sonst wird man sich fragen, was Sie zu dieser Jahreszeit im Hotel wollen. Ich bitte Sie, widersprechen Sie nicht mehr, vertrauen Sie mir.« Und mit einem listigen Lächeln: »Im übrigen hat Charlotte, mein Liebling, keine Bänder, nicht einmal die Aussicht darauf oder ein Versprechen.«
    »Schon wieder diese vorsintflutlichen Bräuche!« rief Herman aus und übertrieb den verächtlichen Zug seines Mundes.
    »Sie sind gut, sie sind ausgezeichnet. Mich versetzen sie in einen Zustand … fortwährender Wallung.«
    Und der Vorsteher lachte erneut und machte sich mit Gesten über Herman lustig, die dieser nicht genau verstand. Es war ein wohlwollender, freundschaftlicher Spott. Herman war angewidert. Man hatte auch noch nie mit solch schmeichlerischer Gönnerhaftigkeit mit ihm gesprochen. Herman war es gewohnt zu leiten und zu befehlen, er gestattete keinerlei private Anspielungen, und seien sie noch so wohlanständig,vor allem außerhalb jeglicher alter Freundschaftszusammenhänge. Er sprach immer etwas kühl, und so antwortete man ihm auch, mit steifem Nacken und durchgedrücktem Rücken.
    Warum sollte sich daran etwas ändern? dachte er.
    Mißlaunig beobachtete er sein Gegenüber aus den Augenwinkeln. Der Vorsteher hatte im Relais angerufen und kurz befohlen, Charlotte möge sofort zu ihm kommen. Dann erklärte er Herman erneut, wie er sich fortan zu verhalten habe, während dieser, der wieder saß, am Einnicken war und nichts anderes mehr empfand als einen undeutlichen,

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