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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Ndiaye
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ihr hättet uns Bescheid sagen können, wir sind zwar froh, hier zu sein, aber trotzdem, es ist nicht nett von euch, da wird Rose etwas zu hören bekommen. Und dann ist der Sturm losgebrochen, wir wollten ein Taxi ins Dorf nehmen, aber man hat uns gesagt, heute wird niemand fahren, warten Sie bis morgen oder übermorgen. Ach, was für ein Ärger! Wir mußten hierherkommen, ein Zimmer nehmen, Sie können sich ja denken, wie gerne wir inL. bleiben wollten, aber es gab keine andere Möglichkeit, hieß es. Was für eine unglaubliche, fürchterliche Gegend …«
    Die Mutter wirkte jetzt verstört. Sie hielt sich ängstlich an ihrem Jackenkragen fest.
    »Sie sagten doch, Herman, der Himmel sei hier immer blau.«
    »Ja, bis zum einunddreißigsten August, aber danach …«
    »Wie kann man so leben … Und diese Stadt, Herman, lauter scheußliche Gebäude, völlig planlos angeordnet …«
    »Der Krieg«, sagte Herman.
    »Ach so, ja, der Krieg.«
    Der Vater setzte ein ernstes, gemessenes Gesicht auf. Über den schlecht beleuchteten kleinen Empfangsraum senkte sich unendliche Traurigkeit. Die Mutter lauschte, als wolle sie den vergangenen Bombenlärm vernehmen.
    »Bei uns in der Gegend«, sagte sie, »haben wir das nicht erlebt, nein, uns hat es an nichts gefehlt, nicht wahr?«
    »Wir können uns nicht beklagen«, antwortete der Vater.
    Sie verstummten bedrückt. Herman befürchtete, das Gespräch käme wieder auf Rose und das Kind.Und was würde er am nächsten Tag mit den beiden Alten anfangen?
    »Dieses Wetter, dieser Himmel, ist das auch wegen des Krieges?« hob die Mutter wieder an, mit zitternder Stimme und leerem Blick.
    In diesem Augenblick ging Métilde hinter der Glastür vorbei. Herman brachte es nicht über sich, aufzustehen und sich freundlich mit ihr auszusprechen, doch er spürte, daß er, indem er Métilde gekränkt, verletzt zurückließ, seine letzte Chance verlor, ins Dorf zurückzukommen.
    Sie blieben eine lange Weile so sitzen, alle drei schweigsam und trübselig, wie erstarrt im alten, muffigen Geruch des spärlich eingerichteten Empfangsraums, und es kam Herman vor, als wären die Eltern nur zu diesem Zweck da, nur um mit ihren bunten Turnschuhen, ihrer frischen, dunklen Gesichtshaut die besondere Verzweiflung zu bezeugen, die im Herbst über dieser einstmals verwüsteten Provinzgegend lag. Und doch wollte Herman fortan genau hier bleiben. Es erschien ihm plötzlich unerträglich, mit dem Versuch, ins Dorf zurückzukehren, warten zu müssen. Und da er nicht entscheiden konnte, ob es vorzuziehen wäre, wenn die Eltern Rose und das Kind dort sähen oder nicht, sagte er sich, sei’s drum, er würde sein Möglichstes tun, sie dorthin mitzunehmen, und diebeiden würden dann eben verstehen, was sie verstehen wollten – was konnte er, Herman, an dem ändern, was geschehen war?
    »Versuchen wir aufzubrechen«, sagte er unvermittelt, »ja, jetzt gleich.«
    »Und der Sturm?« fragte die Mutter, an den Kragen ihrer leichten Windjacke geklammert.
    »Was denn, der Sturm«, erwiderte der Vater gereizt, schon stehend, »wenn er dir doch anbietet, zu deiner Tochter zu fahren – er wird schon wissen, was er tut, wir haben keine Ahnung von dieser Gegend, stimmt’s?«
    An der Rezeption verlangte Herman nach einem Taxi. Ihm war so kalt, daß er die Lippen kaum bewegen konnte.
    »Bei diesem Wetter wird kein Taxi fahren wollen«, sagte die Hotelwirtin.
    »Ich flehe Sie an«, flüsterte Herman.
    Er beugte sich über die Theke, so weit er konnte, und näherte seine erschöpften, aber entschlossenen Augen ganz dicht denen der Frau.
    »Finden Sie eins, ich flehe Sie an.«
    Hinter ihm rief Roses Mutter: »Ja, ja, verlassen wir diese Stadt!«, ganz so, dachte Herman, als wäre der Krieg in L. noch in vollem Gang.
    Sie setzten sich wieder in den Empfangsraum, derVater klopfte sich nervös auf die Knie, die Mutter wiederholte mechanisch, sie würde keine einzige Nacht in L. verbringen; ihr Mund war blau vor Kälte.
    Die Hotelwirtin kam und sagte: »So, Sie haben ein Taxi.«
    Und sie fügte murmelnd hinzu: »Es ist das schlimmste Taxi von L.«
    Dann wollte Herman den Koffer seiner Schwiegereltern nehmen, doch seine schwachen Arme ließen es nicht zu, und der Vater stellte besorgt fest: »Sie haben ganz schön abgebaut, alter Junge.«
    Aber er selbst brach beinahe zusammen, als er schwungvoll und arglos aus dem Hotel trat und der Regen ihn voll gegen die Brust traf. Sie stürzten sich in den Wagen, so schnell sie

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