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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Ndiaye
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zu sehen, die er sich nie außerhalb ihres Ladens vorgestellt hatte und die ihm ohne ihre Schürze plötzlich beinahe geheimnisvoll vorkamen, konnte er der Neugier nicht widerstehen und fragte die Empfangsdame nach den Gründen ihrer Anwesenheit an diesem Ort.
    »Ich meine nur Kaufleute gesehen zu haben«, fügte er noch hinzu, ganz leise, da er das Gefühl hatte, er lasse es schon genug an Diskretion fehlen.
    »Nun, das ist die Wochenversammlung.«
    Diesmal blieb sie stehen, drehte sich zu Herman um, und ihr blasses, glattes Gesicht zeigte eine Überraschung, die Herman beunruhigte und ihn seine Fragen sofort bereuen ließ.
    »Sind Sie denn nicht aus dem Dorf?«
    »Nein«, murmelte er, »tatsächlich bin ich Pariser.«
    Sie gab ein höfliches, distanziertes kleines »Oh« von sich, drehte sich wieder um und ging wortlos weiter, doch ihr Rücken, ihre Taille waren jetzt steifer, ihr Schritt schroffer und rascher, wie Herman mit unerwarteter Betrübnis festzustellen meinte, mit einem Kummer und einem Schrecken, die er selbst übertrieben fand.
    Wie auch immer, wie sollte diese Empfangsdame mir schaden? Sie weiß nicht einmal, worin meine Angelegenheit besteht.
    Er kicherte etwas, um sich aufzumuntern. Am Ende des Flures angelangt, klopfte die junge Frau an eine Tür, öffnete sie und trat dann zurück, um Herman vorbeizulassen.
    »Hier ist es, ich gehe jetzt.«
    Sie ging so schnell davon, daß er sich nicht einmal bei ihr bedanken konnte, wie er es gern getan hätte, und fühlte sich davon tief gekränkt. Der Vorsteher des Fremdenverkehrsamtes, ein kleiner, breiter Mann mit einem dicken, herabhängenden Schnurrbart, kam mit ausgestreckter Hand auf ihn zu – er zeigte damit auf die Empfangsdame, die man in dem endlosen Flur immer kleiner werden sah.
    »Haben Sie bemerkt, daß sie keine Bänder hat?«
    »Was bedeutet das?« fragte Herman kühl.
    »Daß man auf eine gewisse Art mit ihr reden kann und sie auf die gleiche Art antworten wird.«
    »Das ist völlig rückschrittlich!« rief Herman wütend aus. »Was für grobe Sitten! Ich bin es gewohnt, mit allen Menschen so zu reden, wie ich will.«
    »Aber das ist doch sehr pikant so«, wunderte sich der Vorsteher.
    »Ich bin nicht von hier«, unterbrach ihn Herman.
    Vor Zorn bebend, trat er in das Büro und richtete seinen Blick auf die Plakate an den Wänden, Ansichten der Gegend. Es war ein kleiner, fensterloser Raum – Wir sind im Hügel, erinnerte er sich –, in dem ein süßlicher Geruch nach Moder und Salpeter hing. Angewidert vom Gebaren des Vorstehers, dessen bloßes Aussehen, fett, heuchlerisch, ihm die Chancen auf eine Lösung seiner Angelegenheit schon zusammenschrumpfen zu lassen schien, verschränkte Herman die Arme und reckte das Kinn hoch, entschlossen, nicht als erster zu sprechen. Ohne die Aussicht auf den langen Weg, den er erneut zurücklegen müßte, wäre er sofort gegangen.
    »Wo kommen Sie denn her?« fragte der Vorsteher leutselig und offenkundig entzückt über Hermans Besuch. »Aus C.? Aus M.?«
    Er nannte zwei nahe gelegene Dörfer.
    »Ich lebe in Paris. Ich sollte seit gestern wieder dort sein.«
    Der Vorsteher schrie überrascht auf.
    »Sie sind Pariser? Aber der Sommer ist zu Ende!«
    »Das sage ich Ihnen ja«, erwiderte Herman gereizt. »Ich bin nur noch hier, weil mich ein plötzliches Unglück ereilt hat.«
    Sofort dachte er: Aber wir hatten es uns, weiß Gott warum, in den Kopf gesetzt, erst am zweiten zurückzureisen, wohl wissend, daß wir damit in den Herbst hineingeraten würden, auch wenn wir keine Ahnung hatten, was der Herbst hier bedeutet.
    »Wie außergewöhnlich«, rief der Vorsteher.
    Er war erregt, sein Gesicht plötzlich hochrot, und er sah Herman mit aufreizender Ungläubigkeit an. Herman versuchte, herablassend und eisig zu wirken. Doch indem er das Wort »Unglück« aussprach, hatte ihn das ganze Elend der Situation wieder eingeholt. Folglich fand er es wichtiger, seinen Gastgeber rasch über die Geschehnisse ins Bild zu setzen, als seiner Antipathie Ausdruck zu verleihen, um danach loszuziehen und auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Er zog einen Stuhl heran, setzte sich auf die Kante, ließ den Kopf zwischen beide Hände sinken und erzählte mit eintöniger Stimme, wie Rose und der Kleine verschwunden waren und wie man ihn in dieses Büro geführt hatte, weil er den Bürgermeister nicht sprechen konnte, nachdem er am Vorabend schon auf der Polizeiwache abgewiesen worden war.
    »Ach, wie gut ich mir das alles

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