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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Ndiaye
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schwarz, es kam Wind auf. Der Regenschirm klappte um. Métilde schob Herman unter ein Vordach. Ohne es zu merken, hielt er sich weiter gekrümmt und war so einen Kopf kleiner als sie.
    »Tja, es ist Sturm«, sagte Métilde, »dann kommen wir heute nicht mehr nach Hause, kein Auto wird sich auf die Straße ins Dorf wagen. Lassen Sie uns schnell im Gasthof ein Zimmer nehmen.«
    Herman entfuhr ein leises Stöhnen, als sie ihn auf die Straße zog und aufforderte, hinter ihr her zu rennen. Der Regen war jetzt so heftig, daß er das Gefühl hatte, es prasselten Schläge auf seinen Kopf ein, der von dem Lärm im Tennisclub noch schmerzte. Er folgte Métilde mit Mühe, während sie in der trostlosen Fußgängerzone mit der ganzen Kraft ihrer muskulösen Waden zwischen den Pfützen durchsprang. Und wenn er nicht dagegengehalten hätte, indem er mit dem Kopf voran losstürzte, der entfesselte Wind hätte ihn umgeworfen.
    »Was für ein Elend, was für ein Elend …«
    Er jammerte leise vor sich hin, gedemütigt, am Ende. Métilde lachte, als sie in den Gasthof trat.
    »Als Kinder liebten wir den Sturm so sehr«, sagte sie und schüttelte fröhlich das Haar.
    Erschöpft wollte Herman sich an ihre Schulter lehnen, doch er hielt sich zurück, als er plötzlich durch die Glastür, die in den Empfangsraum des Gasthofs führte, Roses Eltern sah, den Vater und die Mutter, jeder in einem Sessel und etwas gezwungen an einem Glas Wasser nippend. Er rückte hastig von Métilde ab. Er glaubte, er müßte vor Überraschung, Niedergeschlagenheit und Müdigkeit umfallen.
    »Nun, was ist denn?« wunderte sich Métilde.
    »Meine Schwiegereltern.«
    »Wo?«
    »Da, im Empfangsraum«, raunte Herman, ohne sie anzusehen.
    In diesem Augenblick bemerkten sie ihn. Der Vater sprang auf die Beine, öffnete die Tür und drückte Herman an seine Brust. Und Herman sah voller Scham und Erleichterung, wie Métilde sich abwandte und, ohne ihn länger zu kennen, an der Rezeption ein Einzelzimmer verlangte. Die Mutter umarmte ihn ebenfalls, die Augen voller Tränen.
    »Es tut so gut, Sie zu sehen, mein kleiner Herman, es tut so gut.«
    Sie hielt sich einen Moment an seinem Hals fest.
    »Sie sehen aber schlecht aus!« rief der Vater. »Sie sind ausgemergelt, buchstäblich ausgemergelt!«
    »Belästige ihn doch nicht gleich damit, wie er aussieht«, sagte die Mutter.
    »Aber schau ihn dir an, man könnte sogar meinen, er wäre geschrumpft!«
    »Es ist diese Gegend, diese fürchterliche Gegend«, meinte sie und trat etwas zurück, um Herman genauer zu betrachten.
    »Herrgott«, rief der Vater mit Verzweiflung in der Stimme, »diese Kälte, dieser Regen, diese unheimliche Stadt, es ist kaum zu glauben. Es ist dunkel, als wäre es Mitternacht! Wo sind Rose und der Kleine, mein lieber Herman?«
    »Im Dorf geblieben.«
    Herman trat in den Empfangsraum und ließ sich auf ein Sofa fallen. Die Eltern waren durchgefroren und hatten ihre Windjacke noch an, sie klatschten und bliesen sich in die Hände. Sie wirkten so aufgebracht darüber, was sie in L. vorfanden, daß eine beinahe tugendhafte Empörung über alle Entmutigung siegte, und sie warfen ungehaltene, ungläubige, mit geziemender Mißbilligung erfüllte Blicke um sich. Roses Eltern lebten im Südwesten Frankreichs. Sie waren beide klein, behende, ruhelos, ihr Teint war dunkel, ihre Redeweise nervös. Hermans Überraschung und Verlegenheit, sie hier anzutreffen, waren um so größer, als sie sonst kaum je verreisten. Sie setzten sich neben ihn auf die Sofakante, ihre Füße tippten ungeduldig auf den Boden, und schließlicherklärte die Mutter mit einer Stimme, die plötzlich voller Vorwürfe gegen Herman war, den Grund ihres Kommens: »Verstehen Sie, wir haben morgens und abends angerufen, um zu hören, wie für den Kleinen das neue Schuljahr angefangen hat, und nichts, jedesmal nur der Anrufbeantworter, der etwas von Ferien sagte, aber die Ferien waren ja zu Ende, nicht wahr, wir kennen die Termine, was sollten wir also davon halten, wir fingen an, uns Sorgen zu machen, das war derart unangenehm! Deswegen habe ich eines Tages gesagt, tja, wenn sie also noch dort sind, dann laß sie uns doch auf dem Land besuchen, in ihrem Ferienhaus, so sehen wir die Gegend auch mal, wir kommen mal heraus, und warum Herman und der Kleine noch nicht wieder in der Schule sind, das erfahren wir bei der Gelegenheit auch gleich. Wir haben den Zug genommen, acht Stunden Fahrt, und jetzt sind wir da, seit heute morgen. Aber wirklich,

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