Ein Tag zu lang
diesen Sommer im Vergleich zum Vorjahr vertilgt hatten. Sicher war jedenfalls, sie hatten weniger gegessen als sonst. Man machte sich Sorgen – denn wenn das so weiterginge?
Rose hat bleiben wollen und die Ewigkeit im Dorf verbringen, dachte Herman, aber sollte sie sich getäuscht haben, wird sie deswegen nicht zurückkehren, und ich auch nicht. Wir gehören jetzt also hierher, aber wie soll man sich an die Nässe gewöhnen? Der Bürgermeister und ich, das sehe ich genau, lösen uns buchstäblich auf, unser Fleisch wird schwammig, niemals werden wir die schöne, starke Statur der Hiesigen haben, das trockene Haar, die schweißfeuchte Haut. Und dennoch müssen wir bleiben und uns unser Plätzchen schaffen.
Schließlich verließ Alfreds Frau den Raum, langsam, rückwärts, sich wiegend und verzweifelter lächelnd denn je. Niemand schaute sie an, nur Herman sah ihr aus den Augenwinkeln nach. Am Tisch wurden verschiedene Strategien erörtert, um die Pariser im nächsten Sommer dazu zu bringen, noch mehr zu konsumieren, als sie es je zuvor getan hatten.
5 Herman wußte, daß Charlottes Mutter ihn schätzte, und so entschloß er sich, sie um einen Gefallen zu bitten. Er wollte sich einmal, nur ein einziges Mal, das Haus der Schuhhändler ansehen, und er versicherte aufrichtig, er werde im Dorf keinen Frieden finden, ehe man ihm das nicht erlaubt hätte. Es war ihm bewußt, daß er damit ungehörig handelte, ja vielleicht seinen Interessen schadete.
»Aber danach werde ich nie wieder um irgend etwas bitten«, versprach er, »und wenn ich irgendwie helfen kann, werde ich helfen.«
Er mußte einfach mit eigenen Augen sehen, wie Rose und der Kleine sich in ihrer dörflichen Unsterblichkeit eingerichtet hatten.
Charlottes Mutter stellte keine Fragen. Sie suchte die Schuhhändler auf und gelangte mit ihnen zu folgender Übereinkunft: Am Nachmittag eines bestimmten Tages bekäme Herman eine halbe Stunde, um das Haus nach Belieben zu erkunden. Daraufhin kaufte sich Herman ein Paar Gummistiefel von der teuersten Sorte, Hausschuhe und Espadrilles, und des weiterengab er sein Vorhaben auf, mit Charlottes Mutter zu verhandeln, wenn sie ihm am Ende des Monats seine Rechnung vorlegen würde.
Am festgesetzten Tag betrat er den Laden und ging, wie vereinbart, direkt in den ersten Stock hinauf. Alle waren ausgegangen, damit er Ruhe hatte. Das Haus war still, dunkel, äußerst ordentlich und steif. Eine Menge Türen führten zu kleinen, niedrigen Zimmern, die mit den üblichen rustikalen Möbeln vollgestopft waren. Starr, vor Bangigkeit zitternd, rief Herman leise nach Rose und dem Kind. Dabei sah er bekümmert, wie es von seinem nassen Hosensaum auf die Parkettböden tropfte. Im zweiten Stock trat er am Ende eines Flures in eine Art staubige Kammer, die mit zwei alten Strohstühlen ausgestattet war. Die Fensterluke ging nach hinten hinaus, auf die Hügel, die in Nebel und Regen verschwammen.
Hier muß es sein, dachte Herman beim Anblick der beiden Stühle, die nebeneinander vor der Fensterluke standen.
Ihm war, als unterscheide eine besondere Art von Stille diesen Raum von den anderen, sie war tiefer, dichter, beinahe sicht- und greifbar. Roses Parfüm, der liebe, frische Seifengeruch, den der Körper des Jungen immer verströmt hatte – Herman schnupperte und war bestürzt, keine Spur davon zu riechen. Erneutwurde er von einem irrationalen Schrecken ergriffen. Er wollte fliehen. Doch in diesem Augenblick kamen die beiden herein, Hand in Hand, und setzten sich jeder auf einen Stuhl, ohne einander loszulassen. Sie waren ganz dicht an Herman vorbeigegangen, völlig lautlos, in ihren durchnäßten Sommerkleidern. Rose hatte ihm wie beim ersten Mal zugelächelt, sehr förmlich. Und jetzt saßen sie vollkommen aufrecht auf ihren Stühlen, regungslos, und schauten auf den kaum sichtbaren Hügelkamm und den Fernsehsendemast hinaus, dessen Spitze durch die unwandelbare schwarze Wolkenmasse stach.
»Das betrachten sie also Tag für Tag«, murmelte Herman, von dem alle Angst abfiel.
Er rief sie schüchtern. Aber er wagte nicht, sie zu berühren. Das Gefühl seiner eigenen Einsamkeit zerriß ihn, ebenso wie die erneut gewonnene Überzeugung, daß Roses Entscheidung, sich für immer zwischen diesen Hügeln niederzulassen, weder ihr noch ihm selbst irgendeine Art von Glück bescheren würde.
Aber eine Art Zufriedenheit mit dem Leben, ja, immerhin, sagte er sich, gut, dann werden wir uns eben damit begnügen.
Er begriff, daß sie ihn
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