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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Ndiaye
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nicht hören konnten, und verstummte. Aus ihren Haaren tropfte Wasser auf denBoden, der abgemagerte Nacken des Jungen wirkte steif, erstarrt, eiskalt. Sie blickten freudlos auf die Hügel hinaus, gleichgültig und abwesend, weshalb Herman sich des etwas bitteren Gedankens nicht erwehren konnte, daß sie beide in Paris sehr viel glücklicher gewirkt hatten als jetzt. Er seufzte und verließ den Raum. In dem Moment klingelte im Stockwerk darunter das Telefon. Unwillkürlich beeilte sich Herman abzuheben. Er erkannte die Stimme des Direktors seines Gymnasiums.
    »Ich habe in Ihrem Hotel angerufen, Sie waren nicht dort, und da hat man mir diese Nummer gegeben.«
    Er mußte sich im Lehrerzimmer befinden, denn Herman hörte Erwachsenenstimmen, Gelächter, Papiergeraschel und zuklappende Schließfachtüren. Hier, in dem dunklen, mit wuchtigen Möbeln vollgestellten Wohnzimmer der Schuhhändler, herrschte drückende Stille, der schwere, winterliche Frieden des Dorfes. Herman erschauerte. Er hatte Mühe, in seinem früheren Ton zu sprechen.
    »Wir haben Sie ersetzt, Monsieur Herman«, sagte der Direktor, »vom heutigen Tag an, das ist es, was ich Ihnen mitteilen muß. Ich denke, wir haben lange genug auf Sie gewartet, nicht wahr, und wir nehmen zur Kenntnis, daß Sie sich tatsächlich dort oben niedergelassen haben. Gleichwohl, Monsieur Herman,dürfen Sie sich unserer vollen Anteilnahme, unseres vollen Verständnisses gewiß sein.«
    Herman stammelte, er merkte, daß ihm die passenden Worte fehlten, die Floskeln und Wendungen, die man gegenüber einem Vorgesetzten gebraucht. Ihm fielen nur leicht umgangssprachliche Redensarten mit Bezug auf den Regen, die Temperaturen ein, und Sprüche wie »Na, aber sicher!« oder »Also, dann will ich mal«, die ihm mit Charlotte genügten, hier jedoch von keinerlei Nutzen waren. Er entschloß sich also zu schweigen und beantwortete die Ausführungen des Direktors lediglich mit ein paar unverbindlichen Brummlauten. Das rührige, geschwätzige Leben, dessen vielfältige Geräusche er am anderen Ende der Leitung vernahm, war ihm fremd geworden und machte ihm beinahe angst. Was hatte er aus der lähmenden Stille dieses Schuhhändlerwohnzimmers heraus zu sagen?
    »Dann leben Sie wohl«, sagte er, als er spürte, daß der Direktor zum Ende gekommen war.
    »Leben Sie wohl, leben Sie wohl, Monsieur Herman, leben Sie wohl …«
    Jetzt hatte niemand mehr einen Grund, dachte er, nachdem er aufgelegt hatte, ihn aus Paris anzurufen, er war wirklich und wahrhaftig allein. Die flüchtigen Gestalten dort oben schien seine Anwesenheit im Dorfnicht zu kümmern. In seinem tiefsten Inneren war Herman verletzt, daß Rose sich als Wohnstätte kein Haus ausgesucht hatte, von dem aus sie ihn, Herman, dauernd gesehen hätte, so wie Alfreds Frau, sondern den Anblick der in Nebel und Regen versinkenden Hügel vorzog. Gewiß, dann würde sie ihn auch sehen, wie er mit Charlotte, Métilde oder vielleicht anderen schliefe (wenn es dazu käme), aber trotzdem, es hätte Hermans dörfliche Einsamkeit gelindert.

    6 Dann geschah es, daß Herman Gilbert nicht mehr ausweichen konnte. Als dieser eines Morgens ankam und verkündete, das Tennisspiel mit seinem Freund Lemaître fände am selben Tag in L. statt, war er gezwungen, sich in aller Eile fertig zu machen und zu Gilbert ins Auto zu steigen. Gilbert war sehr aufgeregt, besorgt und nervös. Er hatte sich ausgiebig parfümiert und sogar, wie Herman meinte, ganz leicht geschminkt – seine hellen Augen waren wie bei einem Schauspieler mit einem schwarzen Lidstrich betont, die blassen Lippen diskret nachgezogen. Er verließ das Dorf mit überhöhter Geschwindigkeit und raste dann die kleine Straße entlang, die in das dreißig Kilometer entfernte L. führte und im Nebel kaum sichtbar war. Herman konnte rechts und links weder die Bäume noch die Wiesen erkennen. Sie fuhren durch einenTunnel aus eisigem Dunst, nur hin und wieder durchbrochen von den Scheinwerfern der wenigen Autos, die ihnen seltsam leise entgegenkamen. Gilberts Fieberhaftigkeit, sein merkwürdiges Aussehen, das leicht feminine Parfüm, mit dem er sich besprüht hatte, all das steigerte das Unbehagen Hermans, dem es gefährlich vorkam, das Dorf zu verlassen.
    Aber ich muß schließlich in L. Geld abheben, sagte er sich im Versuch, die Fahrt in seinen eigenen Augen notwendig erscheinen zu lassen.
    Alfred hatte ihm einen Pullover und eine Jagdjacke geliehen, aber er wurde das Gefühl von Feuchtigkeit nicht los.

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