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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Ndiaye
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jetzt, das wird er verstehen, in dieser Hinsicht geschlagen habe …«
    Und er erläuterte, der Ruhm, den ihm das einbringen würde, sei für ihn mehr wert als ein möglicher Sieg beim Tennis. Egal, wenn er danach bei Lemaître bezahlen müßte. Im übrigen würde er, da er Herman mitgebracht hatte, mit mehr Achtung behandelt werden. Herman mache noch eine großartige Pariser Figur, das würde Lemaître imponieren.
    »Das alles stört dich doch nicht, oder?« fragte Gilbert mit einschmeichelnder Stimme.
    Aber Herman brachte es nicht über sich zu antworten. Er kauerte sich in seinem Sitz zusammen und schloß die Augen, er nahm es sich derart übel, das Dorf verlassen zu haben, daß er vor Schrecken und Groll von Kopf bis Fuß zitterte.
    In L. parkte Gilbert sein Auto auf dem Hauptplatz, dann nahm er Herman mit zum Tennisclub, wo vor dem Spiel zu Mittag gegessen werden sollte. L., die Kreisstadt, war im letzten Krieg zerstört worden und ganz aus Backstein und Beton wiederaufgebaut worden. Die Innenstadt bestand lediglich aus drei Fußgängerzonen zwischen niedrigen Gebäuden mit Flachdächern und Balkons aus dunkel getöntem, durchsichtigem Plastik. Herman wunderte sich etwas: Das also war L., mehr nicht? Die Straßen lagen fast menschenleer im Regen. Die Steinplatten waren rutschig, die Blumenkästen halbvoll mit Butterbrotpapier und Flaschen.
    »Oh, Métilde!« rief Herman aus, als er vor ihnen die Gestalt einer unter einen Regenschirm geduckten jungen Frau bemerkte.
    Aber sie bog an der nächsten Ecke ab, während sie geradeaus weitergingen. Herman wollte ihr nachlaufen.
    »Wir haben keine Zeit«, sagte Gilbert.
    Sie hätte mich gerettet, dachte Herman, plötzlich schicksalsergeben. Denn er wußte, Métilde hatte kein Auto und kam deshalb eigentlich nie nach L. Sie hatte vorgehabt, sich erst sechs Monate später hinfahren zu lassen, um ihre Prüfung abzulegen. War sie also nicht durch eine wunderbare Fügung hier, für ihn, Herman? Um ihn ins Dorf zurückzubringen, ihm zu helfen heimzukehren? Sie hatte ihn jedoch nicht gesehen, und er, in seiner großen Schwäche gegenüber Gilbert, hatte sie entkommen lassen.
    Und jetzt betraten sie den Tennisclub, Gilbert klopfte sich vor Anspannung mit dem Schläger gegen die Wade und zwang sich, vor sich hin zu pfeifen. Er hatte draußen Lemaîtres riesigen Geländewagen erkannt und hielt nun im Restaurantsaal, der über den um diese Jahreszeit überdachten Tennisplätzen lag, nach ihm Ausschau. Das plötzliche Getöse, das unerwartet war, wenn man aus den öden Straßen kam, erfüllte Herman mit Entsetzen. Er preßte die Händeauf seine bereits schmerzenden Ohren, doch die dröhnende Musik, die aus einem Dutzend Lautsprecher an der Decke quoll, der Lärm der Stimmen in dem vollen Saal und der darunter geschlagenen Bälle waren gleich beim Eintreten in seinen Schädel gedrungen, der nun auf irrwitzige Weise vibrierte, widerhallte, klingelte. Er deutete eine Fluchtbewegung an. Im gleichen Augenblick packte Gilbert ihn am Ellenbogen und stieß ihn auf Lemaîtres Tisch zu, dicht am Geländer, von wo aus man, wenn man sich vorbeugte, die Spiele verfolgen konnte.
    »Der andere kommt nach dem Essen«, raunte Gilbert in bezug auf Lemaîtres Partner.
    Und er umarmte Lemaître und stellte sie einander vor.
    »Herman kommt aus Paris«, sagte er sofort, »und sogar aus dem 14. Arrondissement, stimmt’s, Herman, Rue des Plantes.«
    »Ach, in der Gegend kenne ich jemanden, ein hohes Tier«, erwiderte Lemaître.
    Er war etwa in Hermans Alter, aber wesentlich größer und dicker. Er trug enge Jeans, eine geblümte Krawatte, ein gestreiftes Hemd, und sein weißliches Haar war im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er musterte Herman mit einem selbstsicheren, wenig neugierigen Blick. Das Weiß seinerAugen war von roten Äderchen durchzogen. Herman kam es vor, als taxiere er seine schmalen Schultern, seine mageren Arme, als verzeichne er vielleicht erfreut die Feuchtigkeit, die ihn innerlich wie äußerlich beherrschte.
    »Aber was tun Sie denn dann noch in unserer Gegend, Monsieur Herman?«
    »Meine Frau hat bleiben wollen«, murmelte Herman, und Lemaître schien sofort zu begreifen.
    Herman litt so sehr unter dem Lärm, daß er unwillkürlich das Gesicht verzerrte. Er schämte sich zutiefst, da zu sein. Es war ein Verrat am Dorf.
    »Wir haben den Club vor knapp sechs Monaten eröffnet, einen solchen Tennisclub werden Sie nicht einmal in Paris finden, und es gibt auch Squash und

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