Ein Tag zu lang
Und seit sie am letzten Haus des Dorfes vorbeigefahren waren, fühlte sich Herman wie verurteilt. Er war noch nie in L. gewesen, das in Gilberts und Métildes Reden immer als Gegenbild zum erbärmlichen Dorf hingestellt wurde. Doch Herman spürte, wie er im Dorf jetzt selbst zu einer Art unerlösten Seele wurde, und diese Seelen verließen den Ort, den sie gewählt hatten oder an dem sie gestrandet waren, niemals. Er versuchte gleichwohl zu lachen und sich selbst töricht zu finden. Aber die wachsende Angst beklemmte ihm den Atem. Da Gilbert beharrlich schwieg, bat Herman ihn, etwas von seinem Freund Lemaître zu erzählen – und warum war es denn von solcher Bedeutung, daß Herman in einem Doppel gegen Lemaître als Gilberts Partner auftrat?
Gilbert lachte ernüchtert auf und protestierte, Lemaître sei nicht sein Freund, Leute von der Sorte Lemaîtres, Landrat und Schwimmbadfabrikant, hätten im übrigen meist nichts als Verachtung übrig für die Dorfbewohner der Umgebung, wie er, Gilbert, einer sei, Sohn von Kaufleuten hin oder her. Tatsächlich konnte man, wenn man vom Dorf kam, nicht hoffen, von Lemaître als ebenbürtig betrachtet zu werden, auch wenn er liebenswürdig und herzlich tat. Gilbert wußte sehr wohl, daß er für Lemaître (aus L. gebürtig) nur ein Bauerntrampel war, unfähig, auch nur das Abitur zu schaffen, jedoch auf wundersame Weise mit körperlichen Vorzügen ausgestattet (hübsches Aussehen, gewandtes Auftreten usf.), die den Umgang mit ihm interessant und seine beklagenswerte Herkunft gerade so weit vergessen machten, um sich davon nicht behelligt zu fühlen, während man es sich gleichzeitig erlauben konnte, Gilbert mit der Nachlässigkeit und Gönnerhaftigkeit zu behandeln, zu denen ihn der herabwürdigende dörfliche Nimbus, der seinen anmutigen Körper umgab, verurteilte. Man konnte also nicht sagen, Lemaître sei sein Freund. Aber Gilbert hatte ihn geschickt bearbeitet. Er hatte ihn betört, das war sicher. Und jetzt konnte Lemaître nicht mehr anders, als ihm zu helfen. Lemaître war in der Lage, ihn ohne Abschluß in der Handelshochschule von L.aufnehmen zu lassen. Das war nicht statthaft, aber L. hatte die Macht, es zu tun. Nur gehörte er nicht zu den Leuten, die anderen aus reiner Freundschaft einen Dienst erweisen.
»Ha, ha, nein!« lachte Gilbert höhnisch, und seine Oberlippe bedeckte sich mit Schweiß.
Lemaître amüsierte sich gern, schloß Wetten ab. Es war ausgemacht, wenn Gilbert dieses Tennisspiel gewänne, würde Lemaître sich bei der Schule für ihn verwenden, ohne dafür etwas von ihm zu verlangen. Wenn nicht, dann würde Gilbert sich diese Unterstützung erkaufen müssen, ganz einfach. Das war gerecht. Denn hätte Gilbert ohne Lemaîtres Beistand die geringste Chance, es zu etwas zu bringen? Er würde in erzwungenem Müßiggang im Dorf dahinleben, sich von Praktikum zu Praktikum hangeln, bestenfalls in irgendeinem jämmerlichen Job stranden, als Reinigungskraft in der Cidre-Kellerei, als Teerarbeiter, als kleiner städtischer Angestellter oder Mann für alles bei den Pariser Sommergästen. Wie hoch auch der Preis wäre, um Lemaître zu befriedigen und seine Unterstützung zu erlangen, Gilbert würde ihn gern bezahlen, während er sich niemals entschließen könnte, aufzugeben und sein Leben lang im Dorf vor sich hin zu dümpeln.
»Aber ich habe dir doch gesagt, ich habe seit zwanzig Jahren nicht mehr Tennis gespielt«, wandte Herman besorgt ein.
Verdrossen rutschte er auf seinem Sitz herum. Er machte Gilbert Vorwürfe, daß er sich ihn als Partner ausgesucht hatte, ihn, der kaum spielen konnte, und daß er seinen armen geschwächten, zitternden Schultern die Verantwortung einer nahezu sicheren Niederlage aufbürdete.
»Was soll’s, halb so schlimm«, sagte Gilbert.
Aber er drückte noch ein wenig mehr aufs Gas. Er zwinkerte nervös, er mußte sich sehr anstrengen, den Straßenrand zu erkennen. In seinen Augenwinkeln perlte schon etwas Schwarz. Er ließ sein Fenster herunter und atmete tief durch. Da kam es Herman vor, als begänne das Wasser, das ihm das Blut in den Adern ersetzt hatte, zu gefrieren, und er war sich plötzlich sicher, nichts würde ihn je wieder aufwärmen können.
»Worauf es ankommt«, erklärte Gilbert, »ist nur, daß er sieht, ich kenne einen Pariser, ich bin nicht so … na ja, ich bin sogar mit einem Pariser befreundet, weil er selbst nämlich viele kennt, angeblich, aber er spielt nicht mit ihnen Tennis oder so was, während ich ihn
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