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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Ndiaye
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eine Sauna, einen Fitneßraum, alles. Das Ganze hat zwei Millionen gekostet«, erklärte Lemaître. »Diesen Club habe ich bei der Stadt durchgesetzt, und er verändert das Leben hier, das können Sie mir glauben.«
    Lemaître bestellte ungefragt das gleiche Menü für alle. Dann machte sich Gilbert daran, Herman zu rühmen und zu betonen, was für eine Gunst Herman dem Dorf und seinen Einwohnern erwiesen habe, indem er sich bei ihnen niederließ; denn Herman sei Pariser durch und durch, usf. Er schloß jeden seiner mit atemloser, erregter Stimme ausgestoßenen Sätze mit einem»Stimmt’s? Stimmt’s?«, das Herman mit in die Unterhaltung einbeziehen sollte. Doch Herman blieb, auch wenn er Gilbert gern gefällig gewesen wäre, stumm, mit taubem Kiefer, unfähig, den Mund zu öffnen. Er saß gekrümmt auf seinem Stuhl und hielt den Kopf gesenkt. Die Furcht lähmte ihn: Das Dorf erschien ihm jetzt so fern … Wer würde ihn heil dorthin zurückbringen? Lemaître schaute ihn ironisch an, während Gilbert, immer röter und verkrampfter, jetzt fabulierte, Herman bekomme jeden Tag Anrufe aus Paris.
    »Stimmt doch, oder?« stieß er schrill, mit glänzenden Augen hervor.
    Er beugte sich herüber, um Herman an der Schulter zu schütteln. Herman nickte. Dennoch warf Gilbert ihm einen haßerfüllten Blick zu. Lemaître lachte gönnerhaft auf, dann strich er Gilbert kurz über die Wange und berichtete, er habe gerade ein hufeisenförmiges Schwimmbad verkauft, an den Landgutbesitzer Soundso, und er erzählte lang und breit von diesen Leuten, mit denen er sich angefreundet hatte.
    Wer wird mich zurückbringen, wer wird mir verzeihen? dachte Herman auf die Melodie des Schlagers, der aus den Lautsprechern dröhnte.
    Gilbert erklärte großtuerisch, er würde diese Leute, die in hufeisenförmigen Schwimmbädern badeten, auch gerne kennen. Er betonte, er wolle viele Menschen kennenlernen. Die Gegend war voll von reichen, ausgabenfreudigen, eleganten Leuten, die in Paris eine Zweitwohnung hatten – wenn er nur auch dazugehören könnte, eines Tages … Mit einem guten Diplom der Handelshochschule in der Tasche, dem Dorf entronnen, würde er sich ohne Mühe Einlaß verschaffen in diese Welt, die so sehr seinen Neigungen entsprach und so nahe lag, in der unmittelbaren Umgebung des Dorfes und nicht weit von L., verborgen in schwer zugänglichen Tälern, in denen man von der Landstraße aus unvorstellbare Herrenhäuser und Schlösser erahnen konnte (hier ein Erkertürmchen, da ein Taubenhaus).
    »Gut, gut«, meinte Lemaître und nickte, befriedigt und spöttisch zugleich.
    Herman dachte: Wird das Dorf mich wieder aufnehmen? Werde ich überhaupt hingelangen können?
    Dann hob er mit letzter Kraft den Kopf, straffte die Schultern, schob seinen Stuhl zurück und rief aus: »Ich muß Geld abheben, ich habe nichts mehr!«
    Er kehrte Gilbert und Lemaître den Rücken, schlängelte sich unsicher zwischen den Tischen hindurch, und als er aus der Tür war, sprang er mit einem Satz die drei Eingangsstufen hinunter auf den Gehweg. Er stürzte und schürfte sich die Hände auf.
    »Ach, da sind Sie ja«, sagte Métilde, als sie vor ihm auftauchte.
    Sie half ihm wieder auf die Beine, sichtlich erleichtert, ihn endlich gefunden zu haben, und hielt ihn dann noch für ein paar Schritte fest um die Taille, in der anderen Hand ihren großen rosa Regenschirm.
    »Lassen Sie uns schneller gehen«, meinte sie, »damit sie uns nicht einholen.«
    Herman klammerte sich an den Gürtel von Métildes Regenmantel. Ihr frisches, blasses, entschlossenes Gesicht mit der vom Regenschirm leicht rosa getönten Stirn machte ihn durstig und lockte ihn. Sie schritt kräftig aus und zog Herman mit. Auf schwachen Beinen ließ er sich führen.
    »Als ich gehört habe, daß Sie mit Gilbert zu diesem Tennisspiel losgefahren sind«, erklärte Métilde, »da habe ich mich an den Straßenrand gestellt und bin per Anhalter hergekommen. Nein, das hatte ich noch nie gemacht. Ich habe es für Sie getan, um zu versuchen, Sie vom Spielen abzuhalten, wenn noch Zeit wäre, denn Sie sind nicht in der Lage, so ein Spiel durchzustehen, Sie wären zusammengebrochen, das ist gefährlich. Ja, das hatte ich Gilbert wieder und wieder gesagt, aber er wollte nicht sehen, wie sehr unser Klima Sie angreift, wie Regen und Kälte Ihren Körper geschwächt haben, das ist normal, Sie sind nicht von hier und waren durch nichts vorbereitet auf …«
    Der Regen verstärkte sich plötzlich, der Himmel wurde

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