Ein Tag, zwei Leben
einer Zelle sitzen.«
Ich zog eine Grimasse. » Dad, ich glaube … ich glaube, das hängt damit zusammen, dass er getrunken hat.«
Er nickte. » Ganz bestimmt sogar. Der Mistkerl hätte dir sagen sollen, dass es ihm verboten war, Alkohol zu trinken. Vor Jahren ist es zu diesem Vorfall gekommen – er und seine Freunde waren betrunken und haben einen Jungen fast totgeprügelt. Er durfte nur unter der strengen Bedingung wieder zu seinen Eltern zurück, dass er sich bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr wöchentlich einem Alkoholtest unterzieht. Das und die Tatsache, was er dir angetan hat … die Anklage gegen ihn ist eine klare Sache.«
Ich versuchte, sowohl die Enthüllung über Dex’ Vergangenheit als auch die Tatsache zu verarbeiten, dass er mir die ganze Zeit etwas verheimlicht hatte. Doch obwohl ich wusste, was er getan hatte, fühlte ich mich schuldig.
» Dad, ich … Er ist normalerweise nicht so. Er hat nie getrunken. Ich … ich habe ihm wehgetan …«
» Nichts davon ist deine Schuld, Sabine«, sagte Mom und stand auf. » Ich will nichts davon hören, dass du dir selbst die Schuld dafür gibst.«
» Tue ich auch nicht. Was er getan hat, war schrecklich. Und rückblickend hätte ich es kommen sehen müssen. Ich glaube nur … Ich glaube, er braucht eher Hilfe als eine Strafe.«
Lucas stand im Türrahmen. » Hört sich ja an, als wärst du über Nacht erwachsen geworden«, sagte er; näherte sich dem Bett und legte seine Hand auf meinen mit dem Laken bedeckten Fuß. » Ich bin froh, dass du okay bist.«
» Ich auch.«
Er nickte mir zu, was irgendwie respektvoll wirkte.
Dad betrachtete das Fenster und die Blumensammlung. Ich wusste, dass er es kaum verkraftete, mich so zusammengeschlagen zu sehen. » Sabine, im Moment musst du dich einfach nur darauf konzentrieren, wieder in Ordnung zu kommen. Überlass Dex der Polizei. Das Wichtigste ist, dass er dir nie wieder wehtun kann. Und falls du etwas zu seinen Gunsten sagen willst, wenn es so weit ist, dann wird dir niemand im Weg stehen.«
Ich nickte. Das war alles, was ich momentan tun konnte.
» Ich fühle mich so dumm, dass ich das nicht habe kommen sehen.« Noch während ich das sagte, wusste ich, dass es in gewisser Hinsicht Anzeichen dafür gegeben hatte.
» Fieslinge wie er sind so durchtrieben, Sabine«, sagte Ryan. » Sie behandeln dich wie eine Prinzessin, solange du genau das bist, was sie von dir erwarten, aber wenn irgendetwas nicht so läuft, wie sie wollen oder wenn sie kurz davor sind, dich zu verlieren, kann sich alles mit einem Wimpernschlag ändern.«
Eine Krankenschwester streckte den Kopf zur Tür herein. » Tut mir leid, aber der Arzt sagt, dass sie jetzt Ruhe braucht.«
Mom und Dad küssten mich behutsam auf die Stirn und gingen zur Tür. Lucas folgte ihnen.
» Ryan?«, rief Mom leise.
» Sag ihnen, sie sollen verschwinden. Ich gehe erst, wenn sie mich darum bittet.«
Mom straffte sich. » Gut, dann mache ich das.«
Ich lächelte und hielt die Hand meines großen Bruders, wobei ich wusste, dass unser Verhältnis nie wieder so schlecht sein würde wie früher. Selbst als der Tag langsam in die Nacht überging und sich die Nacht hinzog, wich mir Ryan nicht von der Seite – und ich bat ihn auch nicht darum.
Schließlich sagte er: » Das klingt jetzt vielleicht sonderbar, Sabine, aber du siehst aus, als wärst du glücklich.«
Ich schaute auf die Uhr; es war fast Mitternacht und ich hatte Ethan ein paar echt erstaunliche Dinge zu erzählen, wenn ich ihn wiedersah – Dinge, von denen ich wusste, dass er sich über sie freuen würde.
» Und vielleicht hört sich das jetzt sonderbar für dich an, aber das bin ich.« Ich zuckte mit den Achseln. » Immerhin bin ich am Leben.«
Ich vollzog den Wechsel.
28 – Roxbury, Mittwoch
Ich hatte gewusst, dass Ethan nicht da sein würde, wenn ich zurückwechselte, aber noch immer sehnte ich mich heftig nach ihm. Ich lag im Bett und hörte, wie die Pflegerinnen und Pfleger auf dem Flur auf und ab gingen; schließlich schlief ich vor lauter Erschöpfung ein.
Erst vormittags wachte ich wieder auf, als es an meine Tür klopfte. Einen Augenblick später trat Macie ein. Sie sah aus, als hätte sie geweint, und ich fragte mich, ob sie und Mitch sich wohl gestritten hatten. » Du hast Besuch«, sagte sie ohne den gewohnten Biss.
» Wer ist es?«, fragte ich; ich setzte mich auf, weil ich plötzlich die Hoffnung hatte, dass es Ethan wäre.
» Denise. Sie sagt, du würdest sie erwarten.«
Ich
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