Ein Tag, zwei Leben
damit bezweckte. Er hatte lange gewartet und ich hatte es ihm nicht gerade leicht gemacht. Aber ich würde heute Nacht nicht mit ihm schlafen, deshalb nahm ich die Drinks und ließ mehrmals zu, dass er mich bis Sekunde zehn küsste. Durch den Alkohol entspannte ich mich soweit, dass ich ihn sogar ein paarmal bis Sekunde achtzehn gehen ließ. Doch dann entdeckte ich, dass nach Sekunde fünfzehn mit Dex’ Körper noch andere Dinge passierten …
Kurz danach ging ich wieder dazu über, das Ganze ab Sekunde zehn abzubrechen.
Es war ein Wunder, wie viele Leute tatsächlich auftauchten. Mindestens hundertfünfzig hatte Lucy schon vorhergesagt. Irgendwann könnten es auch mehr gewesen sein, aber zu meinem Glück tauchte mein anderer Bruder, Lucas, kurz vor Mitternacht auf. Er bot an, ein Auge auf alles zu haben und mir dabei zu helfen, um zwei Uhr, bevor Mom auftauchte, den Stecker zu ziehen.
» Hat Mom dir gesagt, dass du kommen sollst?« Ich war ein wenig gekränkt, dass man mir nicht vertraute.
Lucas steckte die Hände in die Hosentaschen. Das war seine standardmäßige Abwehrhaltung, und sie gab mir immer das Gefühl, ich sei unter seiner Würde oder so. » Nein. Ich dachte nur, du könntest Hilfe brauchen, falls die Party aus dem Ruder läuft.«
» Oh.« Ich musterte ihn misstrauisch, weil ich wusste, dass es ganz und gar nicht abwegig war, dass Mom ihn geschickt hatte. Doch Lucas sagte in der Regel die Wahrheit, deshalb beließ ich es dabei. » Willst du was trinken?«
» Nein. Die Leute sind nicht so mein Fall.« Ein kleiner Seitenhieb. Was mich anging, fand nur wenig Lucas’ Gefallen. Er hielt mich für eine verzogene Göre, die alles bekam, was sie wollte.
Wenn er wüsste!
Andererseits – welche Leute waren schon sein Fall? Wenn man es in dieser Stadt jemandem nachsah, dass er ein Eigenbrötler war, dann Lucas mit seinem finsteren, aber adretten Äußeren. Ich glaube, deshalb hatte er sich auch dazu entschieden, bei Dad zu wohnen. Das bedeutete nämlich, dass es sich vermeiden ließ, sich dauerhaft mit mehr als einer weiteren Person herumschlagen zu müssen.
» Ich gehe ins Wohnzimmer. Wenn du mich brauchst, dann hol mich einfach.« Dann ging er steif an mit vorbei, wobei er Abstand hielt, als wären wir Fremde und nicht Bruder und Schwester.
» Danke, Luc«, sagte ich zu seinem Rücken und erntete so etwas wie ein Schulterzucken.
Lucas und ich sahen uns nicht oft, aber anders als bei Ryan neigte ich dazu, ihm zu trauen. Auch wenn er mich nicht besonders mochte, war er ehrlich, und ich wusste, dass er halten würde, was er versprach. Manchmal war der Gedanke, dass der Altersunterschied zwischen uns nur zwei Jahre betrug, schwierig. Ein Teil von mir wünschte, er würde sich einfach etwas zu trinken schnappen und mit mir plaudern, sich locker machen. Aber allein schon, dass er aufgetaucht war, war ziemlich nett für Lucas’ Verhältnisse, deshalb ließ ich zu, dass er sich ins Wohnzimmer zurückzog; wenigstens konnte ich mich entspannen und die Party genießen, wenn er da war.
Um halb zwölf war ich ganz erpicht darauf, wegzukommen. Das war schon immer Teil meines Plans gewesen – mich einfach eine Weile davonzuschleichen, um in aller Ruhe den Wechsel zu vollziehen. Doch als ich mich auf die Suche nach einem Zimmer machte, stieß ich überall auf jemanden. Oder mehrere Jemands. Ich öffnete die Tür zu meinem eigenen Zimmer und schrak zurück, als mein Blick auf Brett und Miriam fiel – ein Anblick, der jetzt zweifellos für immer in mein Gedächtnis eingebrannt sein würde.
» Mist«, sagte ich immer wieder zu mir selbst. Es war zehn vor zwölf und ich schob mich noch immer verzweifelt durch Horden von Menschen, auf der Suche nach einem abgeschiedenen Ort, an dem ich die Welt wechseln konnte. Aber es gab keinen, sogar vor den Toiletten standen Leute Schlange.
» Shit, Shit, Shit.«
Mit klopfendem Herzen beschleunigte ich meine Schritte. Nur noch eine Möglichkeit. Ich ging durch die Küche in Richtung Kellertür und kam dabei an einem Mädchen vorbei, das mehr oder weniger oben ohne war und das ich glücklicherweise nicht kannte. Es war von drei Typen umringt, die ich kannte und die versuchten, es dazu zu überreden, Fotos von sich machen zu lassen. Ich warf ihnen einen angewiderten Blick zu, bevor ich mich durch die Tür schob und die Treppe hinunter ins Dunkle stolperte. Ich musste unbedingt ein ruhiges Plätzchen finden. Bis Mitternacht waren es nur noch wenige Minuten und ich musste mich
Weitere Kostenlose Bücher