Ein Tag, zwei Leben
Es ist mir egal, was er tut.«
Ethan schüttelte den Kopf. » Du glaubst, du wärst so schlecht dran. Hast du jemals darüber nachgedacht, dass du vielleicht Glück hast? Vielleicht hast du die Gelegenheit, etwas Fantastisches aus deinen Leben zu machen. Du könntest … ich weiß nicht, du könntest die Welt verändern, vielleicht mehr als nur diese eine. Du könntest etwas bewirken. Weißt du überhaupt, wie unglaublich das ist? Hast du je daran gedacht, dass du mit deinem Wissen aus der einen Welt der anderen nutzen könntest? Hast du das je überhaupt versucht herauszufinden?«
» Du willst, dass ich etwas bewirke? Dass ich wichtig bin?«
» Ja!«
Ich blickte zu ihm auf. » Weißt du, was ich will, Ethan?«
Er sprach leise. » Was, Sabine? Was willst du?«
Sein bohrender Blick drang in mich und mein Herz zog sich zusammen. Ich hasste diese unfreiwillige Reaktion, die er bei mir hervorrief. Vor allem jetzt, wo ich wusste, dass ich ihm nichts bedeutete. Ich ignorierte die Gefühle, die in mir aufwallten, und hielt seinem Blick stand.
» Ich will in der Lage sein zu atmen. Ich will mit Leuten zusammen sein, die mich mögen – die mich ganz mögen. Und ich möchte die Freiheit haben, sie auch zu mögen. Ich möchte in der Lage sein, ihnen alles von mir zu erzählen und nicht die ganze Zeit zu lügen und zu täuschen. Wenn ich eines Tages aus Versehen irgendwo einschlafe, dann möchte ich die Sicherheit haben, am selben Ort auch wieder aufzuwachen. Ich will jeden Tag ein Mal leben, und zwar so gut, wie es mir möglich ist. Wer bist du schon, dass du mir das absprechen kannst? Ich habe dir gesagt, dass ich nicht sterben will, Ethan, ich will leben. Ist das so falsch?«
» Aber woher willst du wissen, dass du dich für das richtige Leben entscheidest?«, flehte er. » Was ist, wenn du etwas aufgibst, das du noch gar nicht hast, eine Zukunft in dieser Welt, die dich glücklicher macht, als du es dir je vorgestellt hast?«
» Das ist ein Risiko, das einzugehen ich bereit sein muss. Es gibt jede Menge ›was wäre wenns‹ im Leben. Ich kann mich nicht nach allen Seiten absichern, wenn ich meine Leben lebe. Glaub mir, das ist kein Leben.«
» Aber genau das meine ich doch, Sabine. Es ist wie diese Redensart: Leben ist das, was passiert, während du dabei bist, andere Pläne zu schmieden. Du denkst die ganze Zeit, dass ein Leben besser wäre, aber wie kannst du die Hälfte von dem, was dich ausmacht, aufgeben und glauben, dass dich das glücklicher macht? Und wo wir gerade von den ›was wäre wenns‹ reden – was wenn du dich irrst? Du kannst dir nicht sicher sein, dass du, wenn du in der einen Welt stirbst, in der anderen weiterleben wirst. Was, wenn du beide Welten verlierst? Was, wenn du stirbst?«
Ich rieb mir die nackten Arme. » Ich habe die Tests gemacht, alles spricht für meine Theorie.« Nervös schaute ich auf die Uhr, stand dann auf und ging ein paarmal auf und ab. » Nicht mehr lange bis zum Wechsel. Hast du heute etwas für mich?«
Er zog einen Zettel aus der Tasche. » Warum bemühst du dich, mich zu überzeugen, wenn du es sowieso tun wirst?«
Das war eine komplizierte Frage mit einer noch komplizierteren Antwort. Ich versuchte, Zeit zu gewinnen, indem ich die Liste las. ›Uskon sinua.‹ Ich nehme an, du willst mir keinen Hinweis darauf geben, was das für eine Sprache ist?«
» Es ist Finnisch«, antwortete er und überraschte mich damit, dass er mir einen Tipp gab. » Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
Ich faltete den Zettel und zuckte leicht mit den Achseln.
Er ließ nicht locker. » Ich denke, das liegt daran, dass du ganz und gar nicht sicher bist. Ich denke, ein Teil von dir wünscht sich, dass du einen Weg findest, wie du beide Leben leben und sie irgendwie vereinbaren kannst.«
Ich kletterte aufs Bett, weil ich wollte, dass mein zweitletzter Wechsel so glatt wie möglich lief. Ethan rutschte zum Fußende, damit ich Platz hatte.
» Und ich glaube, du denkst zu viel«, murmelte ich.
Um Viertel vor zwölf spürte ich, wie sich Panik breitmachte, das Blut wich mir aus dem Gesicht. Ethans Worte spukten mir im Kopf herum, erschütterten meine festen Überzeugungen. Ich wollte heute Nacht nicht verletzlich sein.
» Du willst wissen, warum? Ich will dich nur davon überzeugen, damit du dich bereit erklärst, Maddie die Briefe zu geben, die ich ihr geschrieben habe, weil ich weiß, dass meine Eltern es nicht tun werden.«
Ich hörte, wie er schluckte. Ich rechnete damit, dass
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