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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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handbeschriebene Seiten. »Was, wenn ich euch verraten würde, dass Mahtab mir schon geschrieben hat?« Sie wedelt ihnen mit den Blättern vor der Nase herum, die Augen freudig erregt, weil sie etwas weiß, das sie nicht wissen. »Ist doch ganz klar, dass Maman mich nicht anruft«, sagt sie, als ihr Blick auf eine Reklame für eine Telefongesellschaft fällt. »Sie will nicht, dass ich im Hintergrund Mahtab höre, weil alle meinen, ich wäre gekränkt, weil sie entschieden haben, dass nur
sie
nach Amerika darf.«
    »Hör auf«, sagt Ponneh mit zittriger Stimme. »Ich will nach Hause.«
    »Das sind doch bloß Englisch-Hausaufgaben«, sagt Reza, ohne Saba dabei richtig anzusehen. »Wo ist der Umschlag? Und die Briefmarken?«
    Sie faltet die Seiten einzeln, schiebt sie zusammen und legt sie in die Mitte der
LIFE
-Illustrierten über eine Reklame für einen Farbfernseher, damit Ponnehs aufmerksame Augen sie nicht studieren können. »Wer behält denn schon einen Umschlag? Da war keine amerikanische Briefmarke drauf. Er ist über die Türkei gekommen.«
    Die Reklame verkündet:
You made it number one in America. There’s only one chromacolor and only Zenith has it.
Die Nummer eins in Amerika muss überhaupt das Allerbeste auf der Welt sein. Saba versucht sich vorzustellen, was für eine Art von Fernsehen Mahtab sich jetzt jeden Tag anschauen kann. Groß, hypnotisch. Immer in Farbe, mit zehn Kanälen, die neuesten Serien und keine Verbote. Kein Bedarf an geschmuggelten Videobändern mit der Aufschrift »Zeichentrickfilme für Kinder«.
    »Wisst ihr, was in Amerika die Nummer eins ist?«, sagt Saba. Sie versucht, ausgelassen zu klingen, als hätte sie sich gerade ein Spiel überlegt, und als Ponneh mitmacht, genau wie Mahtab das getan hätte, liebt Saba sie fast ebenso sehr. Ihr wird immer klarer, dass ein unwahrscheinliches Feingefühl erforderlich sein wird, um ihre Schwester zu ersetzen. Ponneh ist in vielen wichtigen Punkten genau wie Mahtab: mutig, eigenwillig, selbstbewusst. Aber immer dann, wenn Saba ein bisschen vergisst, dass Ponneh nicht Mahtab ist, sagt Ponneh irgendwas Unbedachtes, das Mahtab nie sagen würde, oder sie setzt einen verführerischen Gesichtsausdruck auf, den die Zwillinge niemals hinbekommen würden, und Saba stößt in dem Versuch, das Schuldgefühl loszuwerden, die Luft aus, weil sie die beiden miteinander vergleicht, weil sie Ponneh zu sehr liebt. Nein, noch hat sie Mahtab nicht ersetzt.
    »Was denn?« Ponneh greift nach einer Zeitschrift, und ihre zu hellen Mandelaugen blitzen vor übertriebener Neugier, als wollte sie eine vorherige Treulosigkeit wiedergutmachen.
    »Harvard«, sagt Saba und wendet sich wieder der
LIFE
zu. In dieser Ausgabe wird Harvard gleich drei Mal erwähnt. Der märchenhafte Verlobte von Schahzadeh Nixon hat dort Jura studiert. Und ein paar Seiten weiter gibt es einen Artikel über den neuen Präsidenten von Harvard, der mit dem Satz anfängt:
The selection of a new Harvard president ranks in gravity with the election of Popes and premiers
. Eine wichtige Universität, ganz klar – ein Ort, der so magisch, so besonders ist, dass er die Kulisse für
Love Story
sein konnte, einen Film, den Amerikaner und Iraner gleichermaßen abgöttisch lieben und über den in allen Zeitschriften, die Saba besitzt, geschrieben wird.
    Ein Ort, der zu Mahtab passt. Ein Name, den in Teheran die meisten kennen, und sogar einige in Rasht.
    »Okay«, sagt Ponneh und legt beide Hände in den Schoß wie eine resignierte Ärztin oder Schuldirektorin. »Erzähl uns was darüber, wenn’s hilft. Meine Mutter sagt, Geschichten erzählen ist was Gutes.«
    »Ich weiß nicht«, sagt Reza kopfschüttelnd. »Es ist schon spät.«
    »Leg los, Saba-dschan«, sagt Ponneh und wirft Reza einen warnenden Blick zu. »Ich hör zu.«
    Saba strahlt, greift aber nicht nach den handgeschriebenen Seiten. »Macht euch nichts draus, wenn ihr nicht alles versteht«, doziert sie salbungsvoll, sodass Ponneh kichert und hin und her rutscht. »Amerika ist kompliziert. Da ist es einfacher, es sich so vorzustellen wie in einer Fernsehserie.«
    Saba ist die Einzige, die einen Fernseher hat, einen Videorekorder und einen ganzen Stapel illegal synchronisierter und entsynchronisierter Bänder mit amerikanischen Sendungen, die sich ihre Freunde heimlich mit ihr anschauen, fasziniert von den wackeligen, körnigen Bildern; davon, dass die Lippenbewegungen der Menschen meistens nicht zu dem Gesagten passen; von den Irrungen und

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