Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
Vom Netzwerk:
Schauergeschichte erzählen. »Du kennst ja die Mullahs, die schnarchen. Und unter ihren Turbanen haben sie dünne, fettige Haare. Im Schlaf legen sie gern ihre dicken, schwabbeligen Arme um ihre Frauen, und sie küssen wie tote Fische.«
    Mahtab fröstelt. »Ich will keinen Mullah heiraten.«
    Das will keine.
    »Das will keine«, sagt Maman, weil sie schon immer geglaubt hat, dass man Mädchen so zur Unabhängigkeit erzieht.
    Mahtab sagt: »Ich will reich sein und nicht heiraten und mir von keinem sagen lassen müssen, was ich zu tun habe.«
    Und dann sagt Maman etwas sehr Wichtiges. Passt ihr gut auf? Was jetzt kommt, ist entscheidend. Sie sagt zu Mahtab: »Das wirst du auch, weil Saba reich ist.«
    Vielleicht flüstert Mahtab meinen Namen genau in dem Moment. Wisst ihr, manchmal, wenn sie sich langweilt, liest sie meine Briefe und erfindet Geschichten über unsere gemeinsame Zeit.
    »Das ganze Leben ist in deinem Blut vorgezeichnet« – Maman beugt sich vor und tippt Mahtab auf die Nase, die genauso aussieht wie meine, haargenau –, »und du und Saba, ihr habt das gleiche Blut. Ganz gleich, wo ihr lebt.« Das ist wahr. Wie viel kann Mahtab denn wirklich selbst bestimmen? Wie viel kann jeder von uns selbst bestimmen? Es ist alles vorherbestimmt, wie die alten Weissager behaupten. Mahtab sollte das wissen, weil sie an jenem Tag auch im Wasser war. Und ich sage euch, sie wird ganz schön beleidigt sein, wenn sie hört, dass ihr Spinner denkt, sie wäre tot!
    Maman steht auf und rührt den Eintopf ohne Lammfleisch um. Seht sie euch an: meine arme Mutter, meine Schwester. Seht, wie traurig sie ohne mich sind. Es ist schwierig, die richtige Menge Essen nur für zwei zu machen oder ein Gespräch in Gang zu halten. Für einen vollen Tisch muss man zu viert sein. Und seht euch die Zukunft an, die jetzt in Mahtabs Kopf eingepflanzt ist: Sie wird eine amerikanische Schahzadeh in einer Illustrierten sein, mit vier verschiedenen Kleidern auf ebenso vielen Fotos und einem stillen Mann mit heller Haut und altem Geld und neuen Gedanken. Sie hat jetzt amerikanische Ambitionen, wie man das aus Filmen über Waisenkinder kennt. Jetzt gehört Mahtab zu der Sorte Mädchen, die sich Sorgen machen – über Geld, über die Liebe, über die Zukunft. Amerika hat sie gelehrt, so viele Dinge zu begehren.
    Am nächsten Tag geht Mahtab in die Bibliothek. Sie informiert sich über Schulkurse und Aufnahmeprüfungen und staatliche Stipendien, damit konnte nämlich die junge Frau aus
Love Story
aufs College gehen. Sie füllt ihren Kopf mit allen möglichen Fakten und Bewerbungsfristen und Zulassungsbestimmungen – die gleichen Dinge, mit denen sich meine Cousinen in Texas seit ihrer Ankunft dort fast zwanghaft beschäftigt haben. Aber vor allem drückt sie ihren Träumen von Ruhm und Reichtum einen Namensstempel auf. Sie nimmt ihre Mädchenträume, ihre Liebe zu Büchern, ihr kindliches Bedürfnis nach Komfort ebenso wie ihren Selbsthass als Zwilling und verstaut alles fein säuberlich in einem Päckchen, das sie fest verschließt und zischend mit einem Brenneisen kennzeichnet. Den Namen darauf würde selbst der ölverschmierte, nach Kreuzkümmel riechende Iraner an der Tankstelle wiedererkennen: Harvard.
    * * *
    »Seht ihr?«, sagt Saba, steht auf und klopft sich den Staub der Gasse vom Hosenboden. »Ist das etwa keine gute Geschichte? Hundertmal besser als Fernsehen.«
    »Das war’s?«, fragt Reza. »Mehr kommt nicht? Geht sie denn nun nach Harvard oder nicht?«
    Saba versucht, ihre Wut zu zügeln. »Wir sind elf«, sagt sie. »Da kann in dem Brief doch nicht drinstehen, ob sie angenommen wurde. Was glaubst du denn, was das hier ist, die Märchenstunde deiner Mutter?«
    »Ich dachte bloß –«, stammelt Reza. »Tut mir leid.«
    »Saba meint doch nur, dass eine gute Geschichtenerzählerin nicht alles auf einmal verrät«, sagt Ponneh so ernsthaft, dass Saba lächeln muss. Ponneh verleiht allem, was Saba sagt, zusätzliches Gewicht, einfach indem sie ihr zustimmt.
    »Genau«, sagt Saba. »Das ist wie
Unsere kleine Farm
. Immer ein Problem pro Folge.«
    Ponneh und Saba folgen Reza Arm in Arm Richtung Hauptstraße. Er geht voraus, weil er behauptet, er wüsste, wie man mit Polizisten fertigwird, weil er in großen Städten ja so toll zurechtkommt. Sie wollen eine Telefonzelle suchen, um bei Saba zu Hause anzurufen, wo sich inzwischen bestimmt ihre sämtlichen panischen Eltern und die Khanom-Hexen versammelt haben. Reza scheint keine besonders

Weitere Kostenlose Bücher