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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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Wassertröpfchen auf ihrem Gesicht erinnert sie an jenen Tag im Sommer, als sie und ihre Schwester spätnachts noch schwimmen gingen. Aber das war vor langer Zeit. Jetzt ist alles entschieden, wieso also diese plötzliche Beklommenheit?
    Als sie ein gutes Stück am Strand zurückgelegt hat, hört sie eine Stimme ihren Namen rufen. Sie dreht sich um und sieht Dr. Zohreh, die auf sie zugelaufen kommt und ihr Kopftuch festhält, damit es nicht vom Wind weggerissen wird.
    »Saba, warte auf mich!«, ruft sie. Saba bleibt stehen und wartet, bis Dr. Zohreh sie eingeholt hat. Das Gesicht der Ärztin ist rot, und sie keucht, als wäre sie schon seit Jahren nicht mehr gerannt.
    »Sie hätten mir nicht folgen müssen!« Verwundert nimmt Saba Dr. Zohrehs Arm. »Mir geht’s gut.«
    »Nein, dir geht’s nicht gut«, sagt die Ärztin, als wäre es eine Diagnose. Sie räuspert sich und greift nach Sabas Hand. »Was ist los, Saba-dschan? Du musst nicht so tun, als hättest du immer alles unter Kontrolle … Red mit mir.«
    Saba zuckt die Achseln, sucht nach einer Antwort.
Nichts ist los.
Cheshmeh gehört ihr nicht mehr. So viele Menschen, die sie geliebt hat, sind aus ihrem Leben verschwunden, und doch ist sie noch hier, die Füße auf dem Sand und den Felsen. Keine Welle ist gekommen, um sie fortzureißen. Sie hat alles so einigermaßen mit Anstand bewältigt, hofft sie. Und jetzt fühlen sich die Tröpfchen auf ihrer Haut an wie früher. Sie leckt das Wasser von ihrer Hand – dieser einzigartige, halb salzige kaspische Geschmack.
    Dr. Zohreh berührt Sabas Wange, was ein unerwartetes Zittern ihres Kinns auslöst. »Hat es mit Reza zu tun?«, fragt sie. Saba schüttelt den Kopf.
    Dann kommt die Antwort von ganz allein. Sie überrumpelt Saba, weil sie so dagegen angekämpft hat, sie zuzulassen. »Maman ist tot«, stößt sie heraus. Ein ganzer Klumpen von Wörtern verfängt sich in ihrer Kehle, und sie zwingt ihn mit neuartiger Kraft heraus. »Und Mahtab ist tot. Ich hab sie im Wasser sterben sehen.«

Maast
und
Dugh
    Khanom Basir
    A m Flughafen entdeckte Saba sie.
    Sie hatte über Schwindel und Kopfschmerzen geklagt, aber trotz ihrer Benommenheit und trotz des Gedränges am Flughafen sagte Saba, sie hätte sie an der Hand einer Frau in einem blauen Manteau gesehen. Die Frau ging mit Mahtab weg, also schrie Saba ihren Namen. »Mahtab! Hier sind wir!« Sofort hob Bahareh sie hoch und sagte ihr, sie solle still sein. »Aber was ist mit Mahtab?«, fragte Saba.
    Das Gedächtnis ist schon seltsam, nicht? Ihre eigene Mutter nahm sie auf den Arm und sagte ihr, sie solle die fremde Frau nicht belästigen, aber wenn sie sich zurückerinnert, verwechselt sie die beiden miteinander, und daher meint sie, dass ihre Mutter in ein Flugzeug stieg. Das Gehirn macht so etwas, damit das Leben weitergehen kann.
    Ich kann mir nicht vorstellen, was ich dem Mädchen in diesem Zustand gesagt hätte. Bahareh jedenfalls entschied sich für: »Mahtab trifft uns dort. Bitte, Saba-dschan, sei jetzt brav.«
    Sie standen in mehreren Warteschlangen, vor der Gepäckkontrolle, vor der Passkontrolle. Ein
pasdar
nach dem anderen stellte Khanom und Agha Hafezi Fragen.
Wohin reisen Sie? Warum? Für wie lange? Verreist die ganze Familie? Wo wohnen Sie?
    »Meine Frau und meine Tochter verreisen allein«, sagte Agha Hafezi. »Nur für kurze Zeit, um Ferien bei Verwandten zu machen. Und ich bleibe hier.«
    Der
pasdar
nickte, doch dann meldete sich Saba zu Wort. »Mahtab kommt auch mit!«
    Der
pasdar
blickte zu dem Mädchen hinunter und runzelte die Stirn. Saba lächelte und versuchte, Mahtab im Gedränge zu finden. »Wer ist Mahtab?«, schnauzte er die Eltern an.
    Bahareh lachte unsicher. »So heißt ihre Puppe.«
    Ehe Saba Theater machen konnte, nahm ihr Vater sie hoch und sagte, sie würde so viele Windbeutel bekommen, wie sie essen könnte, wenn sie nur den Rest des Tages kein Wort mehr sagte. Saba nickte und tat so, als würde sie sich den Mund wie einen Reißverschluss zuziehen. Wenn ich jetzt zurückdenke, könnte ich schwören, dass es das letzte Mal war, dass Saba sich Windbeutel gewünscht hat. Der Tag war für vieles das letzte Mal.
    Als sie die letzte Warteschlange hinter sich hatten, murmelte Bahareh irgendwas darüber, dass Kinder so viel Ärger machen, und wahrscheinlich sagte Saba deshalb nichts, als sie Mahtab erneut sah, diesmal auf dem Arm eines Mannes mittleren Alters mit einem braunen Hut. Sie zog an der Hand ihres Vaters und zeigte in die

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