Ein Teelöffel Land und Meer
ihr den Weg bereitete? Vor Mahtabs Tod sagte er manchmal: »Meine Töchter, ich werde mit euch ans Meer fahren und euch mit Hundertdollarscheinen abtrocknen.« In letzter Zeit hat sie immer wieder einen Traum, in dem ihr Vater ein Handtuch aus amerikanischen Geldscheinen hält, die Arme ausgestreckt, und sie ruft. In dem Traum ist sie noch ein kleines Mädchen, und sie wendet sich von ihm ab und läuft stattdessen ins Meer. So viele Jahre lang hat sie ihn behandelt, als wäre er der tote Elternteil, während sie nach ihrer Mutter suchte. Irgendwie hat sie es geschafft, sie beide zu verfehlen.
Doch sie kann diese Dinge nicht offen aussprechen, weil sie sich entschieden hat, ihn zu verlassen, weil sie sich für ein eigenständiges Leben, für die Möglichkeit eines Studiums und eines Vermächtnisses entschieden hat und nicht dafür, in seiner Nähe zu bleiben. Vielleicht wird sie ihm das alles in einem Brief schreiben. Vielleicht wird sie auch den Rest ihres Lebens so leben, wie er es sich für sie gewünscht hat, großartig, stark, sicher und ohne Angst vor den größten Risiken des Lebens. Das wird so schwer nicht sein. So hat Mahtab in all den Einwanderergeschichten gelebt. Und war das Mädchen in diesen Geschichten nicht im Grunde Saba? Saba Hafezi, wie sie gewesen wäre, wenn es in der Welt nicht so viele Regeln und Strafen und verpasste Flüge gäbe?
»Erinnerst du dich noch an unser Vater-Tochter-Lied?«, fragt er. Er räuspert sich, und Saba spürt, dass er nicht weiß, wie er ihr Auf Wiedersehen sagen kann.
»Eines Tages komme ich wieder«, sagt sie. »Das ist kein endgültiger Abschied für uns.«
»Ja.« Ihr Vater nickt tieftraurig. Dann nimmt er ihr Gesicht in seine rauen, sonnenverbrannten Bauernhände und sagt: »Ich kann mich glücklich schätzen, dass du so lange bei mir warst.«
Epilog
Kalifornien, Herbst 2001
J ahre sind vergangen. Heute lernt die Außenwelt, mit allem, was neu und unerforscht ist, zu leben, und Saba hastet in ihre Wohnung in Kalifornien, legt eine Filmrolle in eine schwere Kamera und packt einen Koffer. Wenige Tage zuvor hat eine Gruppe arabischer Männer ihr neues Land schwer getroffen. Die Zwillingstürme von New York wurden zweimal angegriffen, seit sie hier lebt. Jeder amerikanische Staatsmann, Bürokrat, Journalist und politisch rechts stehende Experte fordert strengere Einwanderungsregeln. Aber Saba hat jetzt eine
Green Card
, ist also beinahe eine amerikanische Bürgerin. Vor drei Jahren hat sie ihr Journalistikstudium an einem College abgeschlossen, in dem sie vier Jahre älter war als ihre Kommilitonen. Sie arbeitet für eine Zeitung. Sie ist eine Reporterin – eine echte, eine Geschichtenerzählerin ohne die Lizenz zum Lügen, jedoch mit der Freiheit, die volle Wahrheit zu sagen.
An diesem Septembermorgen trifft Saba Vorbereitungen für eine Autofahrt nach New York. Dort ist ihr Flugzeug damals gelandet, und dort begann sie ihr Einwandererleben. Sie sieht die Straßen im Fernsehen, und je weiter sich die Kameras nach Süden vorarbeiten, desto mehr Smog und Trümmer kommen in Sicht. Während jener ersten Tage sehen die Straßen unheimlich aus. Eine Stille scheint sich über diese unzerstörbare amerikanische Stadt gelegt zu haben. Als Saba auf einem Zeitungstitelblatt das Foto einer jubelnden Palästinenserin sieht, einer
dehati
, die Hände in die Luft gereckt, den Mund zum Freudenschrei geöffnet, schämt sie sich ihrer eigenen Verbindung zu ihr.
Einen Flug zu bekommen war unmöglich, also schnappt sie sich ihren Laptop und ihre Kamera, zieht eine Reisejeans an und bereitet sich auf die lange Fahrt nach New York vor. Wenn sie mit ihrem versteckten Persertum durch die Straßen geht, macht ihr niemand Vorwürfe. Sie wird nicht beschuldigt – ist bloß eine Amerikanerin unter kollektivem Schock. Aber sie möchte die Passanten anhalten und ihnen sagen, dass sie unschuldig ist.
Ich bin Christin, eine belesene Frau. Sehr bald werde ich amerikanische Staatsbürgerin sein.
Dieses und mehr möchte sie irgendwelchen anonymen Angreifern sagen, mit lauter und selbstbewusster Stimme, mit ihrem intellektuellen Akzent und den unechten britischen Beiklängen.
Sie hat jetzt Einwanderersorgen.
Trotz des Friedens der vielen vergangenen Jahre sucht sie immer noch manchmal die Gesichter in vollen Räumen nach dem ihrer Mutter ab. Einmal im Jahr erlaubt sie sich einen Brief an ehemalige Evin-Häftlinge.
Als sie nach Kalifornien zurückkehrt, ihre Kamera voller Fotos und ihr
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