Ein Teelöffel Land und Meer
kommen – leise, ohne Fragen zu stellen. In stiller Eile fährt ihr Vater sie in das waldige Gebiet höher am Berg. Als sie ankommen, steht die Tür einen Spalt offen. Saba und Agha Hafezi schlüpfen hinein. Khanom Omidi huscht hin und her, wuchtet trotz ihres hohen Alters Sabas Koffer Richtung Tür.
Ponneh kommt aus einem anderen Zimmer, das durch einen Vorhang vom Hauptraum getrennt ist. »Was ist los?«, flüstert sie. »Gehst du wirklich fort?«
»Ich wollte mich bloß verabschieden. Und sag bitte auch Dr. Zohreh von mir Auf Wiedersehen, okay?«
»Aber warum?« Ponneh ist wie vor den Kopf geschlagen.
Saba schlingt die Arme um ihre Freundin, drückt sie an sich, küsst sie auf die Wangen. »Ich hab dich lieb, Ponneh-dschan«, sagt sie. »Du warst meine beste Freundin seit Mahtab.«
»Was ist mit Reza?« Ponnehs Stimme wird von Sabas Kopftuch gedämpft. »Geht er mit dir?«
»Er liebt dich«, sagt Saba und weicht ein wenig zurück, um ihrer Freundin in die Augen zu sehen. Sie zuckt die Achseln, als wollte sie sagen, dass es keine große Sache ist, dass Ponneh unbesorgt sein soll. »Ich werde mir mein eigenes Leben aufbauen. Und eines Tages, wenn du lange genug als Aktivistin gearbeitet hast und die Dinge besser geworden sind, solltest du ihn heiraten. Und dann müsst ihr beide mich besuchen kommen.«
»Das mit dem Besuchen kann ich dir versprechen … das mit dem Heiraten weiß ich noch nicht.« Ponnehs Gesicht zerfließt zu einem Lächeln, so wie früher, als sie klein waren und sie und die Zwillinge komplizierte Pläne ausheckten, um Süßigkeiten zu stibitzen oder Reza oder Kasem Streiche zu spielen. »Grüß Schahzadeh Nixon von mir«, sagt sie, und Saba sieht, dass zwischen ihnen alles gut ist.
»Wenn du mir versprichst, vorsichtig zu sein«, sagt sie, »kannst du mir jederzeit deine Fotos schicken … für die Zeitungen. Ich ruf dich an und geb dir meine Adresse durch.«
Sie küsst Ponneh noch einmal zum Abschied. Es ist vorbei, und nicht so schwer, wie sie gedacht hatte. Sie lässt eine weitere Schwester zurück, doch das ist keine so unüberwindliche Hürde, wenn ein ganzes Leben darauf wartet, gelebt zu werden. Augenblicke später fällt Saba in Khanom Omidis Arme und inhaliert ihren einzigartigen Duft – eine Mischung aus Jasmin, Kurkuma, Münzen und getrockneten Maulbeeren – in dem Wissen, dass sie diese Freundin wahrscheinlich nie wiedersehen wird. Sie küsst die weiche Hand der alten Frau, übersät mit braunen Muttermalen, blauen Adern und gelben Safranflecken, und denkt an einen Song, der von den alten, schmerzenden Händen einer Großmutter handelt und den der Teheraner ihr einmal mit der Bemerkung gegeben hat, das sei sein Lieblingslied.
»Grandma’s hands used to ache sometimes and swell«
, sang eine Stimme, die so klang wie eine warme Hand auf der Brust, wie ein Winter-
korsi
. Wird Saba jemals wieder einem solchen Menschen begegnen, in New York oder Kalifornien oder Texas?
Bei jedem Abschied vergießt Saba Tränen, aber ihre Hände verspüren nicht den unbezwingbaren Drang, an ihren Hals zu greifen. Sie hat nicht das Gefühl, zu ertrinken oder lebendig begraben zu werden. Nichts zieht sich immer enger um sie zusammen.
Saba und ihr Vater verbringen den Tag im hektischen Teheraner Flughafen. Agha Hafezi geht unruhig vor den Bänken im Wartebereich auf und ab, während Saba die erforderlichen Schritte absolviert, um ihren Flug anzutreten. Nachdem sie qualvolle Minuten lang den Sicherheitsleuten dabei zugesehen hat, wie sie in ihrem Koffer wühlen, und mit jedem Atemzug gebetet hat, dass sie die unteren Schichten ihrer Kleidung nicht zu genau durchsuchen, verabschieden sie sich rasch voneinander.
»Ich verliere die zweite Tochter«, seufzt Agha Hafezi.
»Bloß dass ich zurückkommen kann, wann immer ich will«, sagt sie bemüht heiter. Sie möchte sich für alles entschuldigen, was sie ihm zugemutet hat. Für all die Abende, an denen sie loszog, um illegale Kassetten zu kaufen, oder Alkohol in seine Vorratskammer schmuggelte. Vor allem möchte sie ihm sagen, dass sie jedes einzelne Mal bereut, wenn sie ihn wegstieß, wenn er auf seine eigene, unbeholfene Weise versuchte, Nähe zwischen ihnen herzustellen. Wie kann sie ihm sagen, dass sie bemerkt hat, wie sehr er sich um sie sorgte; dass sie weiß, welche Mühen er auf sich genommen hat, um ihr endlich diesen Flug nach Amerika zu ermöglichen; dass sie gesehen hat, wie sein Schatten zweiundzwanzig Jahre lang vor ihr herlief und
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