Ein Teelöffel Land und Meer
Notizbuch voller Geschichten, ruft Dr. Zohreh an. Seit ihrer Abreise hat Saba allmählich deren Bitten nachgegeben, ihrer geheimen Gruppe zu helfen. Die beiden haben oft miteinander geredet – gleich nach Sabas Ankunft und auch später, wenn sie sich allein fühlte und eine Mutter brauchte, die sich ihre Ängste anhörte. »Ist alles in Ordnung? Ich versuche seit Tagen, dich zu erreichen.«
»Es ist schlimm«, sagt Saba. »Ich muss immer daran denken, wie schwierig es jetzt für Sie oder Baba wird, mich zu besuchen. Oder für mich, zurückzukommen.« Ihren Vater vermisst sie am meisten. Sie ruft ihn oft an.
»Es tut mir leid«, sagt Dr. Zohreh. »Vielleicht ist das ein Zeichen, nach vorne zu schauen.«
»Ja«, pflichtet sie ihr bei, obwohl sie an einsamen Tagen zu viel an Reza denkt. Manchmal geht sie mit ihren Freunden in schäbigen Bars was trinken, wo ein Tequila drei Dollar kostet oder der etwas bessere drei Dollar zwanzig, und dann stellt sie sich vor, dass Reza jeden Moment hereinkommt. Dass er sich verändert haben wird. Vielleicht wird er jetzt Mahtabs Cameron ähneln, ein Amalgam sein, ein drittes Etwas, wie sie das ist. Sie werden die Freiheit haben, sich zu küssen und zu berühren, weil die Leute das hier so machen, aber sie werden es nicht tun, wegen der Zeit und der Entfernung, vielleicht ein wenig auch wegen ihrer Freundschaft und der Gespenster früherer
pasdars
, die allgegenwärtig sind. Den Freunden gegenüber wird sie so tun, als wäre er ihr Cousin – wie Liebende das auf Teheraner Straßen manchmal machen –, schamhaft lächeln und sagen: »Wie geht’s Onkel Soundso?« Das Spiel wird Reza gefallen, und er wird mit irgendetwas Respektlosem kontern wie »Noch immer voller Krebs« oder »Noch immer in seine Putzfrau verliebt«. Die anderen werden ihnen Zeit und Ruhe lassen, um über ihre gemeinsamen Wurzeln zu reden, während sie weltoffene amerikanische Dinge flüstern und Verständnis heucheln. »Seht euch das an«, werden sie mit einem wissenden Kopfschütteln sagen. »Das ist Blut.« Sie wird gemeinsam mit Reza die Bar verlassen. Vielleicht wird es bis zur nächsten Kreuzung dauern, vielleicht bis zur übernächsten, ehe er ihre Hand nimmt und die Innenseite küsst, wobei sein Bart ihre Haut kitzelt. Vielleicht werden sie ganz ohne Musik auf der Straße tanzen, wie Männer und Frauen in Filmen. Dann wird Amerika für eine Weile zurückweichen, und der Iran und Reza und ihre Familie, all die rauchigen Gerüche und
setar
-Klänge und wässrig grünen Details der Heimat werden auf sie einstürmen, und sie wird wieder sie selbst sein – keine schicke amerikanische Reporterin, die Zigtausend englische Wörter kennt und sie für ihre Leser zu eleganten Passagen anordnet, sondern eine junge Gilaki-Frau, die zum leisen Summen ihres dörflichen Geliebten auf einer Straße tanzt.
Doch Reza würde hier verkümmern, und Saba lässt ihn jeden Tag ein bisschen mehr los. Darin ist sie Expertin. Sie kocht eine Kanne Tee für ihre Nachbarin – eine spanische Künstlerin, die ihre Tage damit verbringt, schlecht zu malen und Stipendien zu beantragen – und denkt sich ein Ende für Mahtabs Geschichte aus.
* * *
Ein weiteres Jahr vergeht, und Mahtab verspürt in ihrem Herzen einen Schmerz, eine unsterbliche Sehnsucht – sie gehört nicht hierher. Ihr wisst das. Ich weiß es auch. Aber ich habe sie so viele Jahre lebendig gehalten, und nun spürt sie allmählich, wie künstlich ihre Existenz ist. Es ist Zeit, sie loszulassen. Hier möchte Mahtab nicht sein. Nicht im Iran. Nicht in Amerika.
Als wir Kinder waren, wollte sie einmal von Maman wissen: »Fragst du dich eigentlich manchmal, wie es ist, unvergänglich zu sein? Zu sterben und trotzdem ewig zu leben?«
»Das fragt sich jeder«, sagte Maman. Ich habe ihre Antwort fast wortwörtlich in Erinnerung. »Manche Menschen denken, dass Kinder sie unsterblich machen. Andere sagen, die Arbeit, die man in seinem Leben geleistet hat, oder das, was andere Menschen von einem in Erinnerung behalten. Wieder andere, wie die Mansuris, sind einfach nur müde und möchten ihre Freunde wiedersehen. Aber wir wissen, dass es nur darum geht, Spuren zu hinterlassen. Nicht bloß ein Leben lang zu arbeiten, sondern
bedeutende
Arbeit zu leisten.«
Mahtab ist jetzt müde, erschöpft von ihrer Zeit zwischen den Welten, und sie hat bereits ein außergewöhnliches Leben gelebt. Jetzt bleibt ihr nur noch, zu schlafen.
Auf Wiedersehen, Mahtab-dschan. Ruhe in Frieden und
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