Ein Totenhemd fur einen Erzbischof
das?»
«Ich weiß nicht», antwortete der decurion zögernd. «Es hörte sich an wie ein Stück Metall, das auf eine harte Oberfläche fällt. Ich hätte nicht einmal sagen können, aus welcher Richtung es kam.»
«Und was geschah dann?»
«Ich wußte, daß der zukünftige Erzbischof von Canterbury im Gästehaus untergebracht war, also trat ich ein und stieg die Treppe hinauf. Ich wollte nachsehen, ob alles seine Ordnung hatte.»
Der junge custos schluckte. «Ich war gerade im dritten Stock angekommen, als ich eine Gestalt im geistlichen Gewand entdeckte, die von mir fort auf die Treppe am anderen Ende des Flurs zulief. Es führen nämlich zwei Treppen hier hinauf, die eine von dem Innenhof dort draußen und die andere von einem kleineren Innenhof, der hinter dem Gebäude liegt.»
«Und war der Korridor dunkel oder erleuchtet?» fragte Eadulf.
«Es waren drei brennende Fackeln an der Wand befestigt. Ich …» Marcus Narses hielt lächelnd inne. «Ah, ich verstehe, worauf Ihr hinauswollt, Bruder. Ja, der Korridor war so hell erleuchtet, daß ich Bruder Ronan Ragallach zweifelsfrei erkennen konnte.»
Fidelma zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
«Erkennen konntet?» wiederholte sie. «Hattet Ihr Bruder Ronan Ragallach denn schon einmal gesehen?»
Der custos errötete. «Nein. Damit wollte ich sagen, daß der Mann, den ich durch den Korridor fliehen sah, der gleiche war, den ich später festnahm. Seinen Namen erfuhr ich erst später.»
Licinius nickte traurig. «Es war der gleiche Mann, der sich nachts zuvor als Bruder Eien-Dina ausgegeben hatte …»
Er sah, wie Fidelma ihre schlanke Hand hob, und verstummte.
«Im Augenblick hören wir die Aussage von Marcus Narses», ermahnte Fidelma ihn sanft. «Fahrt fort, decurion . Hat dieser Bruder Ronan Ragallach Euch bei der Festnahme seinen richtigen Namen genannt?»
«Anfangs nicht», antwortete der custos . «Er hat es ebenfalls mit ‹Bruder Ayn-Dina› versucht. Doch einer meiner Männer hat in ihm einen scriptor aus dem munera peregrinitatis erkannt …»
«Dem Amt für fremdländische Angelegenheiten», warf Furius Licinius erklärend ein.
«Der Soldat erinnerte sich sogar an seinen Namen: Ronan Ragallach. Erst daraufhin hat der Mann sich zur Wahrheit bekannt.»
«Wir haben etwas übersprungen», sagte Fidelma. «Kehren wir wieder zu dem Augenblick zurück, als Ihr den Mann, von dem Ihr später erfuhrt, daß er Bruder Ronan heißt, zum ersten Mal gesehen habt. Ihr sagt, Ihr hättet ihn am anderen Ende des Korridors gesehen? Ist das richtig?»
Der decurion nickte zustimmend.
«Und habt Ihr den Bruder aufgefordert stehenzubleiben?» fragte Eadulf. «Hattet Ihr den Eindruck, daß er sich verdächtig verhielt?»
«Nicht gleich. Mein Blick fiel auf die Tür zur Unterkunft des zukünftigen Erzbischofs. Sie war bloß angelehnt. Ich rief nach Wighard von Canterbury, bekam aber keine Antwort und stieß die Tür auf. Als auch auf meinen zweiten Zuruf niemand antwortete, trat ich ein.»
«Waren die Zimmer beleuchtet?» fragte Fidelma.
«Ja, sehr gut beleuchtet sogar. In beiden Zimmern brannten Kerzen.»
«Und was habt Ihr gesehen?»
«Beim ersten Eintreten konnte ich nichts Ungewöhnliches entdecken – außer daß der Deckel der Truhe offenstand.» Er zeigte auf den Aufbewahrungsort der Geschenke. «Die Truhe war leer, aber in ihrer unmittelbaren Umgebung deutete nichts darauf hin, daß etwas entfernt oder in Unordnung geraten war.»
«Gut. Und was geschah dann?» fragte Fidelma, als er erneut innehielt.
«Ich rief noch einmal nach dem Erzbischof. Dann ging ich in sein Schlafgemach und sah ihn auf dem Bett liegen.»
«Er lag auf dem Bett?»
«Nein, nicht ganz. Wenn Ihr wollt, kann ich es Euch zeigen.»
Fidelma nickte. Der decurion ging ihnen voraus ins Schlafgemach, kniete vor dem Fußende des Bettes nieder und nahm die gleiche Haltung ein, die ihnen auch Cornelius von Alexandria gezeigt hatte.
«Nur sein Oberkörper ruhte auf dem Bett, und zwar mit dem Gesicht nach unten. Ich sah die geknotete, um seinen Hals gewundene Schnur und lief zu ihm, um ihm den Puls zu fühlen. Da seine Haut kalt war, wußte ich, daß er nicht mehr lebte.»
«Kalt, sagt Ihr?» merkte Fidelma auf. «Seine Haut war kalt?»
«Ja», bestätigte Marcus Narses und erhob sich vom Bett. Dabei verhakte sich die Spitze seines Schwertes an der Überdecke und zog sie ein wenig zurück. Fidelma sah etwas unter dem Bett aufblitzen, ließ sich aber nichts anmerken und wandte sich wieder an
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