Ein Toter hat kein Konto
auf halbem Wege
stehen. Langsam, beinahe majestätisch, hatte Flauvigny sich erhoben und war auf
den dicken Anwalt zugegangen. Ein lustiges Bild, wie die beiden sich so
gegenüberstanden, der Dicke und der Dünne. Na ja, es hätte jedenfalls lustig
sein können.
„Lenormand“, grollte der Alte mit seiner
düsteren Stimme, „du hast meinen Sohn getötet!“
„Nein, er hat ihn töten lassen!“ rief ich
dazwischen. „Er hat ihn vom Dumonteil töten lassen. Sie wollten, daß Sie daran
krepierten. Sie haben geglaubt, daß Sie nicht mehr die nötige Autorität
besäßen!“
Mit diesem Appell an seine angeknackste Autorität
wollte ich dem Alten Beine machen. Ich dachte, das würde ihn mehr schmerzen als
der Tod seines Sohnes.
Aus den blauen Augen des Industriekapitäns wich
alles Leben. Sogleich begriff ich, daß dieses Pappelhaus genausogut
Zypressenhaus oder Totenkiste hätte heißen können. Und tatsächlich wich das
Leben nicht nur aus den Augen des Alten. Der Revolver, den er in der Hand
hielt, leerte sein Magazin. Die Kugeln drangen in den mächtigen Leib des
Anwalts ein wie in Butter. Lenormand schrie auf und ging zu Boden. Flauvigny
ließ seinen Revolver fallen und leistete ihm Gesellschaft.
Was nun folgte, war weder lustig noch ein
Schauspiel für Herzkranke. Es knallte aus allen Richtungen. Ich hopste, so gut
ich konnte, zu der Kiste, in der sich eine Ladung Waffen befand. Meine Füße
waren nach wie vor gefesselt, meine Hände inzwischen jedoch frei. Während ich
oben auf dem Dachboden gelegen und mitangehört hatte, wie man sich unter mir
stritt und beschimpfte, hatte ich meine Handgelenke von den Fesseln befreien
können.
Ich schnappte mir irgend etwas, das einen
soliden Eindruck machte, und fing an, ein wenig in der Gegend herumzuballern.
Moktar hatte es schon erwischt, aber ich setzte noch eins drauf. Im selben
Augenblick fing ich mir selbst eine Kugel in der Schulter ein, die mir höllisch
weh tat. Auf der Treppe hörte man Getrappel wie von einer Büffelherde. Das
mußte Verstärkung für die Gangster sein. Ich machte meine Rechnung mit dem
Himmel. Gleichgültig gegenüber allem, was sich um mich herum abspielte,
richtete ich meine Waffe auf die Tür. Der erste, der hereinkommen würde...
Sie kamen herein. Drei Männer. Einer in Zivil
und zwei in Uniform. Der in Zivil hielt einen Revolver in der Hand, die
Uniformierten je eine Maschinenpistole.
„Um Himmels willen, Burma! Schießen Sie nicht!“
schrie Faroux.
* * *
Bett, Wände und Decke waren weiß. Der Himmel,
den man hinter den Fensterscheiben sah, war blau mit ein paar weißen
Wolkentupfern. Meine Besucher hatten eine ganz normale Farbe, außer Covet mit
seiner roten Schnapsnase.
„Sie hätten mich beinahe abgeschossen“, sagte
Faroux lächelnd.
„Ich wußte nicht mehr, was ich tat“,
entschuldigte ich mich. „Ich war vollkommen verrückt geworden. Aber da stehe
ich in dieser Geschichte nicht alleine da, oder?“
„Nein, wirklich nicht! Zum Beispiel Flauvigny,
dieser verrückte Kerl! Ein autoritärer Mensch, vor dem alles kuschen mußte,
außer wenn er sich die Ehre gab, großzügig seine Gaben zu verteilen. Die
Erlebnisse nach der Befreiung haben ihn geschockt. Er hat sich gesagt: ,Ich
werde über ein Bandenimperium herrschen, ich werde für Aufregung sorgen,
Überfälle werd ich finanzieren, ein Phantom erfinden — Riton-den-Spinner, das
lebende Alibi — , mit Waffen werd ich handeln, arme Araber auf die großen
Städte loslassen, Leute, die keinen Sou in der Tasche haben und schon das Ihre
tun werden...’ So ungefähr steht es in der Akte, die wir in der letzten Woche
zusammengestellt haben, während Sie hier in der Klinik auf der faulen Haut
gelegen haben.“
„Flauvigny hat sich für Napoleon gehalten. Ein
ganz normaler Fall!“
„Aber wenn er doch in alle diese Geschichten
verwickelt war“, warf Hélène ein, „warum hat er Sie dann damit beauftragt, sich
bei seinen Komplizen einzuschleichen?“
„Das“, sagte der Kommissar, „war sein schwacher
Punkt: sein Sohn Roland.“
„Genau“, stimmte ich meinem Freund zu. „Als
Joëlle aus bekannten Gründen Flauvigny über Rolands schlechten Umgang aufklärt,
ist der Alte doppelt beunruhigt: einerseits wegen des Lebenswandels seines
Sohnes, andererseits wegen der Aktivitäten seiner Komplizen. Er ahnt, daß sie
ihn unter Druck setzen wollen, und wendet sich an einen Privatdetektiv. Der
soll verhindern, daß Joëlle Dinge erfährt, die sie nicht erfahren
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