Ein toter Lehrer / Roman
tatsächlich um das geht, worum du glaubst, Lucia. Oder ob es damit nicht etwas ganz anderes auf sich hat.«
»Was denn? Was soll es denn damit auf sich haben?«
»Na ja, was weiß ich. Vielleicht hattest du als Kind mal einen Hund, der Samuel hieß. Oder vielleicht spürst du irgendeine Verbindung zu diesem Monster – Verzeihung, zu diesem Mann –, einfach weil du dieselben Bücher liest.«
Lucia ließ die Hände in den Schoß sinken und steckte sie dann wieder unter die Achseln. »Das ist doch lächerlich. Ich tue das – ich denke darüber nach, es zu tun –, weil es mein Job ist, das ist alles. Es ist mein Job.«
»Dein Job ist es doch wohl, das zu tun, was dein Chef dir sagt.«
»Das ist nicht deine Einstellung. Das weiß ich genau.«
Philip zuckte mit den Achseln. »Mag sein. Aber in diesem Fall finde ich, du solltest die Sache auf sich beruhen lassen.«
Lucia stand auf, zum zweiten Mal. »Mal sehen, vielleicht. Ich muss es mir überlegen, und vielleicht lasse ich es tatsächlich gut sein. Danke. Für den Wein und für deinen Rat. Ich gehe jetzt besser.«
Auf dem Weg zur Tür erkundigte sich Philip nach David. Lucia hatte sich schon gewundert, dass er noch nicht gefragt hatte. »Es geht ihm gut«, antwortete sie. »Ich könnte mir vorstellen, dass es ihm gutgeht. Eigentlich bin ich mir sicher.«
»Na, na, na.« Philip legte Lucia einen Arm um die Schulter. »Aber da ist doch noch jemand anders«, sagte er. »Sag mir, dass es noch jemand anders gibt.«
»Warum muss es denn unbedingt jemanden geben?«
»Weil du zu jung bist, um allein zu sein.«
»Mit dem Jungsein habe ich an meinem Dreißigsten aufgehört.«
»Dann wirst du allmählich zu alt, um allein zu sein.«
»Du bist alt. Und du bist allein.«
»Wie kannst du es wagen! Ich bin noch nicht mal sechzig. Außerdem bin ich im Herzen jung. Und ich bin nur allein, wenn ich es will.«
Lucia blieb stehen und küsste ihren Gastgeber auf die Wange. »Schande über dich, Philip. Verdirbst all diese jungen Burschen.«
»Das sind Rechtsanwälte, Liebes. Die kommen ohnehin in die Hölle, wie du vorhin so charmant bemerkt hast.«
Es war schon spät am Tag, als sie am Krankenhaus ankam, aber früher, als sie geplant hatte. Von Turnham Green aus war sie mit der U-Bahn quer durch London gefahren und hatte bei sich zu Hause den Wagen geholt. Sie war zur Schule gefahren, hatte am Straßenrand geparkt und dort mindestens eine Stunde lang im Auto gesessen. Auf dem Rückweg hatte sie einen Abstecher zu McDonald’s auf der Bow Road gemacht und am Drive-Through-Schalter eine Portion Pommes und einen Milchshake bestellt. Sie war auf den Parkplatz gefahren, um etwas zu essen, hatte aber nichts hinunterbekommen. Später, auf dem Weg zum Krankenhaus, war ihr leicht übel geworden von dem Geruch nach Frittenfett, der im Wagen hing, aber sie hatte auch Hunger bekommen. Sie hatte einen Kaugummi gekaut – weich, geschmacklos und warm aus ihrer Tasche –, während ihr Magen lautstark auf feste Nahrung plädiert hatte.
An der Tür zu Elliots Krankenzimmer wünschte sie, sie hätte Philips Einladung zum Mittagessen angenommen. Sie träumte von Lachs und Salat und irgendwas mit Erdbeeren zum Nachtisch. Vielleicht würden sie immer noch auf seiner Terrasse sitzen, vor sich drei leere Flaschen, und ein fiebriger Sonnenuntergang über der Stadt würde ihre Geschichten aus alten Zeiten in ein sentimentales Licht tauchen. Aber irgendwann hätte Philip noch einmal nach David gefragt, und Lucia hätte Geschehnisse wieder aufrollen müssen, zu denen sie einfach noch nicht genug Abstand hatte. Das und der Wein hätten ihre Nostalgie in Melancholie verwandelt, und bei dem Gedanken war sie wiederum froh, nicht geblieben zu sein. Stattdessen wünschte sie, sie hätte den Schokomilchshake getrunken, vielleicht ein paar Pommes gegessen.
Die Sichtscheibe in der Tür berührte kalt ihre Wange. Lucia sah Elliot auf seinem Bett, er saß aufrecht, aber mit gesenktem Kopf. Neben ihm saß eine Frau, und auch sie blickte auf ihre Hände. Die Frau sah aus wie Elliot. Nein, vielmehr hatte sie dieselbe Haarfarbe wie er. Das und ihre Körperhaltung machten die Ähnlichkeit aus. Die zwei beteten vielleicht. Ja, dachte Lucia, wahrscheinlich beten sie.
Sie sollte gehen, sagte sie sich, ohne sich vom Fleck zu rühren. Sie beobachtete den Jungen, sah auf seinen Mund, der genauso fest verschlossen war wie beim letzten Mal. Vielleicht hatten sie ihn mit zugenäht, als sie seine Wunden
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