Ein toter Lehrer / Roman
versorgt hatten.
Die Frau sagte etwas. Lucia hörte ihre Stimme, verstand sie aber nicht. Eine weitere Person tauchte auf – zwei Schultern und ein Hinterkopf, auf Lucias Seite des Bettes –, und Lucia ging ein Stück zurück, damit man sie nicht sah. Sie sollte jetzt wirklich gehen.
»Detective Inspector May, sind Sie das?«
Sie trat von der Tür weg. »Doktor«, sagte sie. »Doktor Stein.«
»Da sind Sie ja wieder«, sagte der Arzt. »Ich habe nicht damit gerechnet, Sie noch einmal hier zu treffen.«
»Nein, ich … Ja. Ich bin noch mal gekommen.«
»Heute ist sein letzter Tag, müssen Sie wissen. Er verlässt uns morgen früh.« Der Arzt griff an ihr vorbei nach der Türklinke. »Nach Ihnen«, sagte er, und als die Tür aufging und Lucia eintrat, drehte sich Elliots Familie um und sah sie an.
»Wirklich, ich möchte niemanden stören«, sagte Lucia. Sie zögerte und nickte in den Raum hinein. Sie lächelte.
»Mir ist es lieber, Sie stören meine Patienten während der Besuchszeit. Bitte.« Der Arzt winkte sie hinein und überholte sie auf dem Weg durch den Raum. Er redete, klang optimistisch und kompetent, und obwohl Elliots Eltern seine Fragen beantworteten, ließen sie Lucia nicht aus den Augen.
Ein paar Schritte vor Elliots Bett blieb sie stehen. Lucia wollte eine entschuldigende Miene auflegen, freundlich und besorgt sollte sie wirken und deutlich machen, dass sie sich nicht einmischen wollte, aber je länger sie da stand, die Zähne zusammengebissen und die Lippen zusammengepresst, desto unsicherer, desto dämlicher musste sie aussehen. Sie hätte etwas sagen sollen, hatte aber schon zu viel Zeit verstreichen lassen. Jetzt würde sie warten müssen, bis man sie fragte, wer sie war, oder bis Doktor Stein sie vorstellte, aber er sah nicht so aus, als hätte er das vor.
»Ausgezeichnet«, sagte er. »Alles ganz ausgezeichnet. Die Naht verheilt prima, aber es nützt nichts, ich muss den Verband wechseln, junger Mann. Das kann jetzt ein klein wenig weh tun.«
Lucia räusperte sich schließlich und wollte etwas sagen, aber bevor sie den Mund aufmachen konnte, entfernte der Doktor den Mull von Elliots Ohr. Zum ersten Mal sah Lucia die Wunde. Elliots Ohrläppchen fehlte. Nicht der Junge zuckte zusammen, sondern Lucia.
»Entschuldigen Sie bitte. Wer sind Sie?«
Die Frage kam von Elliots Mutter. Lucia sah zuerst sie an, dann Elliots Vater. Sie warf einen kurzen Blick zu Elliot und sah,
dass er sie beobachtete, aber der Junge schlug schnell die Augen nieder.
Doktor Stein sah hoch. »Ich nahm an, Sie hätten sich bereits kennengelernt.«
»Nein«, sagte Lucia. »Nein, wir kennen uns noch nicht. Ich bin Lucia. Lucia May. Ich arbeite bei der Met. Der Metropolitan Police.«
»Die Polizei?« Elliots Mutter drehte sich zu ihrem Mann um.
»Sie haben sicher Neuigkeiten für uns«, sagte Elliots Vater. »Haben Sie welche?«
»Nein«, antwortete Lucia. »Tut mir leid. Deshalb bin ich nicht hier.«
Elliots Vater warf Doktor Stein einen fragenden Blick zu. Er zeigte keinerlei Reaktion. »Warum sind Sie dann hier?«
»Ich habe etwas mitgebracht«, sagte Lucia. Sie wickelte die Plastiktüte auf, die sie in der Hand hielt, und holte etwas heraus. »Für Ihren Sohn.«
»Was haben Sie da mitgebracht?«
»Ein Buch, Schatz.«
»Das sehe ich auch, Frances. Warum bringen Sie Elliot ein Buch mit?« Er sah seinen Sohn an, der immer noch unbeweglich dasaß. Nur sein Blick wanderte zu dem Buch, das Lucia ihm aufs Bett legte.
»Es ist
Der kleine Hobbit
«, sagte sie. »Wahrscheinlich kennst du es schon. Ich dachte nur, es hilft dir vielleicht.«
Für einen Moment sagte niemand etwas. Lucia strich die Plastiktüte glatt und faltete sie zusammen. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie. »Ich wollte Sie nicht stören.« Sie nickte Elliots Mutter zu, mied aber den Blick des Vaters. Sie steckte die Tüte in ihre Hosentasche und wandte sich zum Gehen. Fast wäre Elliots zarte Stimme im Rascheln des Plastiks untergegangen.
»Danke.«
Lucia drehte sich um. Der Arzt und Elliots Eltern sahen den Jungen entgeistert an. Elliot hielt den Kopf immer noch gesenkt.
Seine rechte Hand lag auf dem Buch.
»Gern geschehen«, erwiderte Lucia. »Ich hoffe, es gefällt dir. Du musst mir unbedingt erzählen, wie du es fandest.«
Im Flur holte Elliots Vater sie ein. Er packte sie am Ellbogen und zerrte sie herum.
»Wer sind Sie?«, fragte er. »Was haben Sie hier zu suchen?«
Eine Krankenschwester drängte sich an ihnen vorbei.
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