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Ein toter Lehrer / Roman

Ein toter Lehrer / Roman

Titel: Ein toter Lehrer / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
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musste genäht werden, deshalb gab es eine Narbe. Wenn ich die Haare wegmache, sieht man sie. Hier. Nein, warten Sie, da. Sehen Sie? Das war Sam.
    Ich war froh, als er ging. Da war er sechzehn und wollte aufs College, und sie haben gesagt, sie bezahlen es ihm, aber er muss noch mal woandershin, in ein anderes Heim, wo kein Platz für mich ist. Das war ihm recht und mir auch. Er hat mir tschüs gesagt, aber auch nur zufällig, weil ich ihn auf dem Weg zur Tür getroffen hab. Gehst du weg?, hab ich ihn gefragt, und er hat gesagt: Ja. Na dann, mach’s gut, hab ich gesagt, und er auch: Mach’s gut. Das war’s. Im Sommer kam er zurück, aber zwei Jahre später ging er wieder weg, diesmal an die Uni. Mir war das schnuppe. Ohne ihn ging es mir dort besser.
    Als ich achtzehn geworden bin, bin ich in ein anderes Heim gekommen. Es war wie die anderen auch, bloß dass ich ein Zimmer für mich allein hatte. Ich konnte die Tür abschließen, und ich hatte einen Schlüssel. Zuerst hat es mir dort nicht gefallen, weil ich allein nicht schlafen konnte. Aber ich hab mich dran gewöhnt. Ich war dann eine Weile dort, aber dann bin ich hierhergekommen, weil das näher bei dem Tesco ist, wo ich arbeite. Jetzt brauch ich morgens mit dem Bus nicht mehr umzusteigen und krieg auch meistens einen Sitzplatz. Und ich hab Annie.
    Ich weiß nicht. Vielleicht vor drei Monaten. Er kam zu Besuch, als wär’s das Normalste von der Welt. Er stand in der Tür und hat gesagt: Hallo Nancy. Und ich hab gesagt: Ach, du bist’s, was willst du? Nichts, hat er gesagt, nichts weiter, nur mal vorbeischauen, und dann hat er gelächelt. Ich hab sein Lächeln nie gemocht. Aber ich hab ihn trotzdem reingelassen. Er ist mit mir hier rein und hat sich dahin gesetzt, wo Sie jetzt sitzen. Wir haben erst mal nichts gesagt, und dann hat er gefragt: Hast du Tee da? Und ich so: Nein. Ach, nicht so schlimm, hat er gesagt, ich hab eigentlich gar keinen Durst. Wie ist es dir so ergangen?, hat er gefragt, und ich hab mit den Schultern gezuckt. Schön hast du’s hier, hat er gesagt, und ich hab wieder mit den Schultern gezuckt. Dann hab ich genickt. Brauchst du Hilfe?, hat er gefragt. Ich hab ja Annie, hab ich gesagt. Ah, Annie, prima, ist sie nett? Ich hab noch mal mit den Schultern gezuckt, dann hab ich genickt.
    Was willst du?, hab ich ihn gefragt.
    Das hab ich doch gesagt, hat er geantwortet. Nur mal vorbeischauen.
    Warum?, hab ich gefragt.
    Warum? Was glaubst du wohl, warum? Weil du meine Schwester bist.
    Nein, bin ich nicht, sag ich. Und ich hab an Annie gedacht, daran, dass sie meine Mum ist, obwohl sie eine andere Hautfarbe
     hat als ich, und dass Sam und ich dieselbe Hautfarbe haben und dasselbe Blut und denselben Nachnamen, aber dass wir in Wahrheit
     eigentlich gar nicht Bruder und Schwester sind.
    Natürlich bist du meine Schwester, hat Sam gesagt. Was soll das heißen?
    Du bist weggegangen, hab ich zu ihm gesagt. Du bist weggegangen und hast nicht angerufen und so getan, als gäb es mich gar nicht.
    Du hättest ja auch anrufen können. Sie hätten dir schon gesagt, wo ich bin.
    Du bist gegangen. Du bist derjenige, der weggegangen ist.
    Und da hat er bloß mit dem Kopf geschüttelt, dagesessen und mit dem Kopf geschüttelt. Dann hat er gesagt: Aber dir geht’s so weit gut, oder? Dir geht’s gut. Und ich hab genickt, und er hat gesagt: Gut. Gut.
    Danach war er eine Zeitlang still. Ich auch. Ich hab ihn nur beobachtet, wie er auf seine Hände geguckt hat. Nancy, hat er gesagt, und ich hab gefragt: Was? Dann hat er mich so angeguckt. Ich wollte dir was sagen.
    Ich hab gewartet.
    Ich wollte dir was sagen, wegen damals. Als wir noch jünger waren.
    Und ich hab immer noch gewartet.
    Darüber, wie ich mich manchmal benommen habe. Über dich und mich, wie wir uns gestritten haben.
    Was denn?, hab ich gefragt, und er hat mich wieder so angeguckt. Dann hat er wieder runter auf seine Hände geguckt.
    Was denn?, hab ich noch mal gefragt, denn da wurde ich schon langsam stinkig. Das war nämlich mal wieder typisch Samuel. Das hat er immer so gemacht: angefangen, irgendwas zu erzählen und einen neugierig zu machen, und dann einfach aufgehört, ehe er gesagt hat, was er sagen wollte.
    Schon gut, hat er gesagt. Nicht so wichtig. Vielleicht ist es wirklich nicht so wichtig. Nicht mehr.
    Und ich dachte mir so, okay. Mir doch egal. Ich bin da nämlich schon öfter drauf reingefallen und hab mich dann schwarzgeärgert über ihn, aber diesmal nicht. Das hab ich mir

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