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Ein toter Lehrer / Roman

Ein toter Lehrer / Roman

Titel: Ein toter Lehrer / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
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ausgemalt hatte, schien es ein Tag wie jeder andere zu werden.
     
    Bis zu dem Anruf.
    Lucia nahm ihn an, also war es ihr Fall. So war die Regelung. Das wurde schon immer so gehandhabt, es sei denn, es gab einen
     offensichtlichen Grund, Cole einzuschalten.
    »Charlie kann das übernehmen. Ich übergebe es an Charlie.«
    »Der kann nicht. Er kümmert sich schon um zwei vermisste Kinder.«
    Cole sah Charlie an. Der zuckte mit den Schultern.
    »Wie steht’s mit dir, Walter? Du siehst aus, als hättest du noch ein paar Kalorien dafür übrig.«
    »Ich würd ja liebend gern, Chef, vor allem, weil unsere Lulu anscheinend ganz scharf drauf ist. Aber ich muss wieder zum Gericht, falls Sie sich erinnern. Wie’s aussieht, zieht sich dieser Mist noch die ganze Woche hin.«
    Cole schnaubte und sah sich um. »Wo zum Teufel steckt Harry? Und Rob? Wo treibt der sich eigentlich rum, verdammt noch mal?«
    »Ich hab die beiden vor zwanzig Minuten gesehen«, sagte Walter mit einem breiten Grinsen. »Sie haben Händchen gehalten und waren auf dem Weg in die hinterste Kabine vom Männerklo. Harry hatte einen Steifen.«
    Charlie lachte. Cole fluchte. »Nehmen Sie gefälligst Ihre Quanten vom Tisch!«, wetterte er und machte eine abfällige Handbewegung in Walters Richtung.
    Als Lucia von ihrem Sessel aufstand, sah Cole sie an. »Sie. Wo wollen Sie hin?«
    Lucia nahm ihr Handy, ihre Schlüssel und den Notizblock und griff nach der Maus, um sich aus ihrem E-Mail-Account auszuloggen. »Es ist niemand anders da, Chief. Wer soll sich denn sonst darum kümmern?«
    Cole hob den Zeigefinger. »Ich warne Sie, Lucia.«
    »Wovor?«
    »Sie wissen schon. Tun Sie doch nicht so.«
    »Was?«, fragte Lucia noch einmal. »Es kann jeder sein. Woher wollen Sie wissen, dass es nicht einfach irgendjemand ist?«
    »Wie lautet die Adresse?«
    Lucia blätterte in ihrem Notizblock.
    »Die Adresse, Lucia.«
    Lucia klappte den Block zu. »Sycamore Drive. Es ist am Sycamore Drive.«
    »Das ist gleich um die Ecke von der Schule. Das ist nicht einfach irgendwer. Ich meine es ernst, Lucia, ich will nicht, dass Sie …«
    »Ich muss los, Chief. Das Taxi wartet.«
     
    Auf dem Rücksitz eines Einsatzwagens fuhr sie zum Sycamore Drive. Eine Plexiglasscheibe trennte sie von den beiden Polizisten, die vorn saßen, und der hintere Teil war nicht klimatisiert. Auch die Fenster ließen sich nicht öffnen, und so war sie der Hitze und dem künstlichen Piniengeruch schutzlos ausgeliefert. Lucia öffnete die Lippen einen Spalt und versuchte, so gut es ging, durch den Mund zu atmen. Der Beifahrer redete über die Schulter hinweg mit ihr. Seine Stimme, gedämpft durch die Trennwand, wurde von der Sirene über ihnen fast übertönt, und Lucia nickte bloß hin und wieder, hob oder senkte die Augenbrauen. Sie betrachtete die vorbeifliegende Stadt, die Unmengen von Menschen, die selbst nach neun Uhr morgens an einem Werktag auf den Straßen waren, alle in Eile, wie es schien; die Hitze und die Anstrengung, mit der jeder Gang, jede Bewegung und jede Besorgung verbunden war, hatten ihnen jegliche Geduld geraubt.
    Ein Toter. Ein Nachname. Das war alles, aber es genügte.
    Sie fuhren an der Schule vorbei. Der Schulhof war voller Kinder, die lärmten, kreischten, sich in Grüppchen über Handys beugten oder auf Treppenstufen saßen und zusammen über Kopfhörer Musik hörten. Andere spielten offenbar Videospiele, und Freunde schauten ihnen über die Schulter, um einen Blick auf die animierten Pixel zu erhaschen. Ein paar Jungs ganz hinten auf dem Schulhof kickten sich einen Ball zu. Das macht man also immer noch, dachte Lucia und wurde für einen Moment von Bitterkeit eingeholt. Sie war zweiunddreißig. Erst zweiunddreißig, und trotzdem fühlte sie sich rückständig, entfremdet von einer Generation, zu der sie sich bis vor kurzem noch selbst gezählt hatte. Sie besaß einen iPod, konnte ihn aber nicht bedienen. Sie wusste, dass es Facebook gab, aber sie hatte zuerst auf Radio 4 davon gehört. Kinder, mit denen sie in Kontakt kam, bezeichneten sie als Frau, etwa, wenn sie fragten: Mummy, warum ist denn die Frau da angezogen wie ein Polizist? Und Eltern – das war noch schlimmer – nannten sie eine Dame: Pass auf die Dame auf, Schatz, sei vorsichtig. Beim ersten Mal hatte sie gelacht. Beim zweiten Mal war sie von einem panischen Schrecken erfasst worden. Wann war das passiert? Wann hatte die Welt beschlossen – beschlossen und ihr verschwiegen –, das Mädchen, für das sie sich

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