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Ein toter Lehrer / Roman

Ein toter Lehrer / Roman

Titel: Ein toter Lehrer / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
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hielt, zu ersetzen, zu erneuern und als erwachsen zu bezeichnen? Wann hatten ihresgleichen die Zukunft an diese Kinder weitergereicht, die Gewalt so ohne weiteres abschütteln konnten, die so abgestumpft gegenüber Hass und Brutalität waren, dass sie auf einem Schulhof lachen, spaßen und spielen konnten, auf dem noch Blutflecken waren? Und all das, während ein Junge in ihrem Alter, den sie kannten und mit dem sie – einige zumindest – geredet und gelacht hatten, weinte, blutete und litt.
    Nein, es war ein ziemlich verbreiteter Nachname. Vielleicht war er es nicht. Sie wusste nicht sicher, dass er es war. Nicht
     sicher.
    Sie bogen in eine Seitenstraße ein. Der Fahrer schaltete die Sirene aus, ließ das Blaulicht aber an. Ein Wagen am Straßenrand fuhr ein Stück vor, so dass es aussah, als wollte er vor ihnen auf die Straße ziehen, und der Fahrer des Einsatzwagens hämmerte auf die Hupe und riss das Steuer herum, obwohl es nicht nötig gewesen wäre. Lucia drehte sich um. Im Vorbeifahren sah sie das Gesicht einer Frau, deren Ausdruck zwischen Schrecken und Zorn schwankte. Der Polizist am Steuer schaltete die Sirene wieder ein.
    Sie kamen an. Sie waren die Ersten. Der Wagen hielt, und die Sirene verstummte, doch Lucia hörte ein Echo. Ein Krankenwagen, vielleicht vier Blocks weiter. Sie stieg aus. Dann stiegen auch die Polizisten aus, setzten ihre Mützen auf und folgten ihr auf dem schmalen Weg durch den Vorgarten.
    Die Tür war angelehnt. Lucia klingelte, klopfte und klingelte noch einmal. Sie drückte die Tür auf.
    »Mr. Samson?«
    Sofort hörte sie ein Schluchzen. Eine Frau, oben.
    »Mrs. Samson?« Lucia sprach lauter, schrie fast. Sie nannte ihren Namen. »Mrs. Samson, hier ist die Polizei«, sagte sie. »Der Krankenwagen ist auch schon da.« Sie ging voran zur Treppe.
    Nichts kam ihr bekannt vor, und obwohl damit auch nicht zu rechnen gewesen war, schöpfte sie Hoffnung. Im Flur stand dicht an der Wand ein Kleiderständer voller Mäntel. Auf dem Boden Schuhe, einige fein säuberlich vor der Sockelleiste aufgereiht, andere einfach so abgestreift, die Schnürsenkel noch zugebunden. Lucia sah ein Kinderfahrrad und dachte, zu klein für ihn, fast mit Sicherheit zu klein. Auf dem Couchtisch im Wohnzimmer standen die Überreste eines unterbrochenen Frühstücks: Toast mit Butter, aber ohne Marmelade, und halb ausgetrunkene Saftgläser, von der Hitze angelaufen. Die Wetteransagerin im Fernsehen sah Lucia lächelnd an, aber Lucias Blick wanderte weiter. Sie hielt Ausschau nach Bücherschränken. Bei ihm zu Hause erwartete sie Bücherschränke. Im Wohnzimmer standen keine, und sie wollte schon aufatmen, als sie im Flur unter der Treppe ein Regal entdeckte, und dann noch eins direkt hinter der Küchentür.
    Schnell ging sie die Treppe hoch. Ihre Füße schlurften auf den hölzernen Stufen, aber dieses Geräusch wurde bald vom Stiefelstampfen der Polizisten hinter ihr, vom Knattern ihrer Funkgeräte und von ihrem Schnaufen an Lucias Ohr übertönt. Oben angekommen, zögerte Lucia und merkte, wie die Männer hinter ihr zusammenstießen. Das Schluchzen hatte aufgehört. Die Tür vor ihr war geschlossen, und weiter hinten auf dem Treppenabsatz regte sich nichts. Sie rief noch einmal laut.
    »Hier. Hier drin.«
    Eine Männerstimme: Leise, resigniert. Lucia kannte sie. Sie eilte weiter und spannte das Zwerchfell an, damit es ihr Herz auffangen konnte.
    Sie kam zum Schlafzimmer. Die Tür stand offen und verdeckte den größten Teil des Zimmers. Lucias Blick fiel auf Elliots Vater, der zusammengesunken an einem Kleiderschrank lehnte. Seine Hände waren rot.
    Lucia ging hinein. Sie beobachtete Elliots Vater. Sie wusste, sie sollte wegsehen, woanders hinsehen, aber ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr. Selbst ihre Füße schienen sie gegen ihren Willen zu tragen. Sie wusste, was sie erwartete, und sie wollte es nicht sehen. Sie wollte einen Rückzieher machen, umkehren, aus dem Haus rennen. Sie wollte die Uhr zurückdrehen und zu Cole sagen, geben Sie Charlie den Fall, meinetwegen auch Walter, denn dann müsste sie es sich wenigstens nicht ansehen. Aber die Polizisten stauten sich hinter ihr, Lucias Füße gingen weiter, und bevor sie Widerstand leisten konnte, stand sie auch schon im Zimmer.
    Elliots Mutter hielt den leblosen Körper ihres Sohnes im Arm. Das Blut war überall: in schwarzen Pfützen auf dem sandfarbenen Teppich, in Elliots Haar, im Gesicht und an den Armen seiner Mutter und auf den Bettlaken, die

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