Ein Traummann auf Mallorca
liebe Gott so etwas zu?“
Instinktiv spürte Charlene, dass die Kleine nicht allein von dem verletzten Vogeljungen sprach. Das Kind hatte vor Kurzem seine Mutter verloren – und vermutlich quälte es sich mit der Frage, ob ihr Tod eine Strafe für etwas war, das es getan hatte. Da Javier Santiago die Zusammenhänge nicht so schnell zu begreifen schien, übernahm Charlene es, Aurora Trost zuzusprechen.
„Manche Dinge im Leben geschehen ganz einfach, mi corazón . Niemand trägt die Schuld daran – ganz gewiss nicht das Vogelbaby.“ Sie nahm die Hand des Mädchens und drückte sie sanft. „Und was den lieben Gott angeht: Oft fällt es uns schwer zu begreifen, warum er etwas tut oder zulässt. Aber ich glaube fest daran, dass er am Ende immer einen guten Grund für alles hat – ob wir es nun verstehen oder nicht. Also, warum freuen wir uns nicht einfach darüber, dass das Vögelchen bald wieder gesund sein wird? Wer weiß, vielleicht trifft es seine Eltern ja eines Tages wieder, und dann gibt es gewiss eine große Vogelfreudenfeier!“
Offenbar hatte sie genau die richtigen Worte gefunden, denn über das Gesicht der Kleinen ging ein Leuchten, und schließlich lächelte sie. Charlene quoll das Herz über vor lauter Zuneigung zu dem Mädchen. Wie konnte man einem solchen Lächeln widerstehen? Nein, sie konnte partout nicht nachvollziehen, wieso Javier Santiago solche Schwierigkeiten hatte, mit seiner Tochter umzugehen.
Charlene beschloss, ihn später, wenn sie allein waren, darauf anzusprechen. Und zwar ganz gleich, ob sie den Job nach dem Einstellungsgespräch nun bekam oder nicht.
Sicher war sie sich dessen nämlich keineswegs, denn das Verhalten Javier Santiagos ließ leider keine Rückschlüsse zu. Der Mann kam ihr vor wie ein wandelnder Eisklotz. Er sah gut aus, keine Frage, und die Frauen lagen ihm vermutlich zu Füßen. Doch nach allem, was sie bisher über ihn wusste, schien er charakterlich ein echter Schuft zu sein. Wäre der Job bei ihm nicht die einzige Möglichkeit für sie, die Probleme ihres Vaters auf einen Schlag zu lösen …
Den Rückweg zu Santiagos Villa legten sie größtenteils schweigend zurück. Selbst Aurora verhielt sich still, was Charlene für eine Sechsjährige eher ungewöhnlich fand. Aber wer konnte es ihr bei so einem Vater schon verdenken? Er schien die meiste Zeit über vollkommen zu vergessen, dass seine Tochter überhaupt anwesend war!
Unwillkürlich musste sie an ihren eigenen Vater denken. Und an ihre Kindheit.
Graham Beckett hatte sich, nachdem seine Frau gegangen war, vollkommen von der Welt zurückgezogen. Er lebte nur noch für seine Arbeit. Dass auch seine Tochter seelischen Beistand benötigte, schien ihm nicht in den Sinn zu kommen. Und so hatte Charlene still gelitten, ohne einen Menschen, an den sie sich wenden konnte.
Es machte sie traurig, dass Aurora offenbar dasselbe Schicksal erleiden musste. Und sie schwor sich, dass sie stets ein offenes Ohr für die Kleine haben würde – falls sie eingestellt würde.
Als sie schließlich vor Javier Santiagos Haus vorfuhren, wurden sie bereits erwartet. Es war Auroras leises Seufzen, das Charlene auf die attraktive junge Frau aufmerksam machte, die mit verschränkten Armen in der Auffahrt stand und den sich nähernden Wagen finster musterte.
„Darf ich fragen, wo du gesteckt hast?“, wandte sie sich, ohne sich lange mit einer Begrüßung aufzuhalten, an Javier, sobald dieser ausstieg. „Du hast mich für drei Uhr zu dir bestellt, damit wir die Verträge für den Goméz-Auftrag noch einmal zusammen durchgehen. Jetzt ist es gleich vier! Und was ist das überhaupt für ein Aufzug?“
Der Ton der Unbekannten war alles andere als freundlich. Zudem schien sie außer Javier niemanden wahrzunehmen. Als ob Aurora und ich gar nicht da wären, dachte Charlene irritiert. Wir könnten uns ebenso gut in Luft auflösen …
Unwillkürlich fragte sie sich, wer die Frau sein mochte. Eine gewöhnliche Sekretärin sicher nicht, denn eine Angestellte würde ihren Chef niemals so maßregeln – schon gar nicht vor einer dritten Person. Charlene hatte aber auch nicht den Eindruck, dass zwischen Javier und der Unbekannten ein besonders enges emotionales Verhältnis bestand. Seine Schwester oder gar seine Freundin war sie demnach ebenfalls nicht. Aber was dann?
Sofern Javier sich am Verhalten der jungen Frau störte, ließ er es sich nicht anmerken. Er schenkte ihr ein süffisantes Lächeln. „Ja, vielen Dank, ich hatte einen
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