Ein Traummann auf Mallorca
Wäldchen.
Von dort her kam das Weinen.
„Hallo?“, rief sie. „Ist da jemand?“
Das Schluchzen verstummte. „Wer bist du?“ Ein kleines dunkelhaariges Mädchen trat aus dem schattigen Unterholz des Wäldchens hervor. Seine Augen waren gerötet, doch es musterte Charlene mit abschätzender Vorsicht. „Ich habe dich noch nie hier gesehen!“
„Du hast geweint“, entgegnete Charlene, ohne auf die Frage des Mädchens einzugehen. „Warum?“
Schweigend blickte die Kleine in die Richtung, aus der sie gekommen war, drehte sich um und lief los. Charlene beeilte sich, ihr zu folgen. Schon nach ein paar Schritten erreichten sie eine Lichtung. Als Charlene stehen blieb und sich umblickte, entdeckte sie ein Vogelnest, das auf dem Boden lag. Es musste vom Baum gefallen sein.
„Zwei der Vogelbabys waren schon tot, als ich es fand“, erklärte das Mädchen ernst und deutete auf ein flaumiges Etwas, das zitternd in dem Nest hockte. „Dieses hier lebt noch, aber es will einfach nichts fressen, ganz egal, womit ich es auch versuche.“ Die Augen der Kleinen füllten sich mit Tränen. „Es wird doch wieder gesund, oder?“
Charlene holte tief Luft. Sie kannte solche Situationen und wusste, wie schwer es für ein Kind war, mit so etwas umzugehen. Sie schaute sich das Vogeljunge genauer an. Es wirkte geschwächt, reagierte aber auf Berührungen. Erleichtert atmete sie auf. Vielleicht war es noch nicht zu spät.
„Wir sollten das Vögelchen zu einem Tierarzt bringen, Kleines, ich …“
„Aurora“, sagte sie. „Ich heiße Aurora Santiago.“
Charlene nickte. Sie hatte sich bereits gedacht, dass sie es mit dem Kind zu tun hatte, auf das sie zukünftig aufpassen sollte. Für eine Sechsjährige war Aurora sehr beherrscht und gefasst. Von ein paar Tränen abgesehen, ließ sie sich kaum anmerken, wie sehr der Zustand des Vogelkükens sie traf. Unwillkürlich fragte Charlene sich, warum das Mädchen ihr gegenüber die Tapfere spielte. Sie hatte sein Weinen doch gehört. Ob Javier Santiago von seiner Tochter verlangte, dass sie ihre Gefühle unterdrückte? Passen würde es zu ihm, dachte Charlene bitter.
„Aurora, hast du vielleicht einen kleinen Karton oder ein Kästchen? Wir könnten das Vogeljunge hineinsetzen, um es zum Tierarzt zu bringen.“
„Würdest du mir dabei helfen?“, fragte das Mädchen hoffnungsvoll.
„Natürlich“, erklärte Charlene feierlich. „Aber wir sollten uns beeilen.“
Hastig nickte das Mädchen und verschwand im Haus. Charlene sah ihm nach, wie es durch die offen stehende Terrassentür eilte. Dann blickte sie an dem Gebäude hoch.
Die Villa war riesig. Allein die Dachterrasse im zweiten Obergeschoss musste ungefähr doppelt so groß sein wie das Apartment, das sie in London bewohnt hatte. Die strahlend weiße Fassade schimmerte wie eine Perle im Sonnenlicht, und in den unzähligen Fenstern spiegelte sich der makellos blaue Sommerhimmel.
Und nun? Charlene seufzte. Wie so oft hatte sie nicht zu Ende gedacht. Ihr Vorstellungsgespräch begann in etwas weniger als einer Stunde. Ihr blieb keine Zeit, das Vögelchen zum Tierarzt zu bringen – ganz davon abgesehen, dass sie auch nicht wusste, wie sie dorthin gelangen sollte.
Sie kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, denn in dem Moment erklang eine aufgebrachte männliche Stimme hinter ihr:
„Was, zum Teufel, machen Sie hier?“
Mit einem erstickten Aufschrei wirbelte Charlene herum. Doch als sie den Mann erblickte, der sie so rüde angefahren hatte, wandelte sich ihr Schreck in Wut. Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein? Zugegeben, er sah recht gut aus in seinen abgeschnittenen kakifarbenen Cargohosen und dem flaschengrünen Poloshirt, das erstaunlich gut mit seinem olivfarbenen Teint harmonierte. An den Füßen trug er derbe, mit Erde und Dreck verkrustete Arbeitsboots. Und auch der Rest seiner Kleidung war mit Schmutzflecken bedeckt. Er hatte ganz offensichtlich im Garten gearbeitet, vermutlich war er für die Instandhaltung der Parkanlage verantwortlich. Aber auch wenn er hier arbeitete, gab ihm das noch lange nicht das Recht, in diesem Ton mit ihr zu reden!
„Ich …“ Sie atmete tief durch. „Mein Name ist Charlene Beckett. Ich bin hier wegen eines Vorstellungsgesprächs … Señor Santiago erwartet mich.“ Wenn auch noch nicht jetzt, fügte sie in Gedanken hinzu, während sie den Mann unverwandt ansah.
Der Gärtner zeigte keinerlei Regung. „Und warum gehen Sie dann nicht ins Haus, sondern schnüffeln
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