Ein Tropfen Zeit
Vetter, und ich bin ihm beinahe ebenso nahe verwandt wie ihr.«
»Ach, um Himmels willen«, fiel Isolda ungeduldig ein, »laßt Henry doch liegen, wo er will. Müssen wir uns wie Metzger aufführen, die um einen Kadaver feilschen, bevor das Tier geschlachtet ist?«
Es war das erste Mal, daß ich ihre Stimme hörte. Sie sprach Französisch wie die übrigen, mit dem gleichen nasalen Tonfall, aber ich fand ihre Sprache musikalischer, vielleicht weil sie jünger war als die anderen und weil ich voreingenommen war. Mathilda brach zur Bestürzung ihres Mannes sogleich in Tränen aus, während Bodrugan zum Fenster ging und mißmutig hinaussah. Isolda, die die ganze Aufregung verursacht hatte, wippte ungeduldig und mit verächtlicher Miene mit dem Fuß.
Ich sah Roger an, der neben mir stand. Er bemühte sich, ein Lächeln zu verbergen. Dann trat er in ehrerbietiger Haltung vor und sagte, ohne sich damit ausdrücklich an eine bestimmte Person zu wenden, sondern um Isoldas Blick auf sich zu lenken – das vermutete ich jedenfalls: »Wenn Ihr wollt, werde ich meiner Herrin Sir Ottos Ankunft melden.«
Niemand antwortete, und Roger, der das Schweigen als Zustimmung auffaßte, verneigte sich und ging. Er stieg die Treppe zur oberen Kammer hinauf, und ich folgte ihm dicht auf den Fersen. Er trat ein, ohne anzuklopfen, und schob die schweren Vorhänge zurück, die die Tür von innen verbargen. Das Zimmer war nur halb so groß wie der Flur unten, und das Himmelbett nahm den größten Teil des Raumes ein. Durch die kleinen, glaslosen Fenster drang wenig Licht, denn die Öffnungen waren mit geöltem Pergament verklebt, und die brennenden Kerzen auf dem Tisch warfen ungeheuere Schatten auf die ockerfarbenen Wände.
Drei Menschen befanden sich im Zimmer, Joanna, ein Mönch und der Sterbende. Henry de Champernoune war durch ein dickes Polster aufgestützt, so daß er sich nach vorn neigte, das Kinn auf die Brust gesunken; um den Kopf hatte man ihm ein weißes Tuch geschlungen, so daß er fast einem arabischen Scheich glich. Seine Augen waren geschlossen, und nach der Blässe des Gesichts zu urteilen, stand der Tod unmittelbar bevor. Der Mönch beugte sich vor und rührte in einer Schale auf dem Tisch. Als wir eintraten, hob er den Kopf. Es war der junge Mann mit den leuchtenden Augen, der dem Prior bei meinem ersten Besuch in der Priorei als Sekretär oder Schreiber gedient hatte. Er sagte nichts, sondern rührte weiter, und Roger wandte sich an Joanna, die am anderen Ende des Zimmers saß. Sie war vollkommen ruhig, ohne das geringste Zeichen des Kummers im Gesicht, und eifrig damit beschäftigt, bunte Seidenfäden durch einen Webrahmen zu ziehen. »Sind alle da?« fragte sie, ohne den Blick von dem Rahmen zu heben.
»Alle, die hergebeten wurden«, antwortete der Verwalter, »und schon streiten sie sich. Lady Ferrers schalt zuerst die Kinder, weil sie zu laut redeten, und jetzt hat sie sich mit Sir Otto überworfen, während Lady Carminowe ihrem Aussehen nach zu urteilen am liebsten woanders wäre. Sir John ist noch nicht da.«
»Und wird wahrscheinlich auch nicht kommen«, sagte Joanna. »Ich überließ die Sache seinem Taktgefühl. Wenn er zu früh kondoliert, hält man es für übereilt, und seine streitsüchtige Schwester, Lady Ferrers, wird die erste sein, die sich darüber aufregt.«
»Sie streitet ja jetzt schon«, antwortete Roger.
»Ich weiß. Je eher es vorbei ist, desto besser für uns alle.«
Roger trat an das Bett und blickte auf den hilflos daliegenden Sterbenden. »Wie lange noch?« fragte er den Mönch.
»Er wird nicht mehr aufwachen. Du kannst ihn anfassen, wenn du willst, er fühlt es nicht. Wir warten nur, bis sein Herz stillsteht, dann kann meine Herrin seinen Tod bekanntgeben.«
Roger musterte die kleinen Schalen auf dem Tisch. »Was hast du ihm gegeben?«
»Dasselbe wie vorher. Kindspech, den Saft der ganzen Pflanze, zu gleichen Teilen mit einem Quentchen Bilsenkraut vermischt.«
Roger sah Joanna an. »Es wäre wohl gut, wenn ich die Schalen wegnähme, damit es kein Gerede wegen der Behandlung gibt. Lady Ferrers erwähnte ihren eigenen Arzt. Sie werden es wohl kaum wagen, sich unseren Wünschen zu widersetzen, aber es könnte doch Schwierigkeiten geben.«
Joanna, immer noch mit den Seidenfäden und Webrahmen beschäftigt, zuckte die Achseln.
»Nimm die Zutaten an dich, wenn du willst«, sagte sie, »die Flüssigkeiten gießen wir aber auf jeden Fall weg. Die Gefäße magst du auch fortnehmen, wenn du
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