Ein Tropfen Zeit
düsteren Atmosphäre im Haus beeindruckte ihn wohl ebenso wie mich, denn er blieb oben auf der Treppe stehen und blickte über die Mauern hinweg auf das leuchtende Wasser der Flußmündung. Die Segel auf Bodrugans Schiff waren lose an der Rahe hochgerollt, und ein Bursche in einem kleinen Boot ruderte achtern hin und her und fischte. Die Kinder waren hinuntergelaufen, um das Boot ihres Onkels zu bestaunen. Henry Bodrugan zeigte seinem Vetter William etwas, und der Hund sprang bellend um sie herum.
In diesem Augenblick wurde ich mir deutlicher denn je zuvor bewußt, wie phantastisch, ja makaber meine Anwesenheit hier war – ungesehen, ungeboren, ein Monstrum in der Zeit und Zeuge von Ereignissen, die sich vor Jahrhunderten zugetragen hatten, an die sich niemand mehr erinnerte und die nirgends aufgezeichnet waren. Ich fragte mich, wie es kam, daß ich hier als unsichtbarer Zuschauer auf der Treppe stand und Liebe und Tod dieser Menschen mich so bewegten, als wäre der Sterbende ein Verwandter aus der Zeit meiner Jugend – vielleicht mein Vater, der im Frühling starb, als ich ungefähr das gleiche Alter hatte wie William dort unten. Das Telegramm aus dem Fernen Osten – er war im Zweiten Weltkrieg gefallen, als englische Truppen gegen die Japaner kämpften – kam gerade an, als meine Mutter und ich mit dem Mittagessen fertig waren; wir wohnten während der Osterferien in einem Hotel in Wales. Sie ging in ihr Schlafzimmer und schloß die Tür, und ich stand an der Einfahrt des Hotels herum, war mir des Verlusts wohl bewußt, konnte aber nicht weinen und fürchtete den mitleidigen Blick des Mädchens am Empfang.
Roger, der das vom Kräutersaft gefärbte Sacktuch mit den Schalen hielt, ging in den Hof zu den Stallgebäuden. Dort hatten sich die Knechte versammelt, die im Hause beschäftigt waren; als der Verwalter näherkam, hörten sie auf zu reden und zerstreuten sich, bis auf einen jungen Burschen, den ich schon am ersten Tag gesehen hatte und an seiner Ähnlichkeit als Rogers Bruder erkannte. Roger winkte ihn mit einer Kopfbewegung heran.
»Es ist vorbei«, sagte er. »Reite sofort zur Priorei und sag es dem Prior, damit er die Glocken läuten läßt. Wenn die Männer sie hören, lassen sie die Arbeit liegen, kommen von den Feldern herein und versammeln sich auf dem Dorfplatz. Sobald du dem Prior die Botschaft überbracht hast, reitest du nach Hause, trägst dieses Bündel in den Keller und wartest auf meine Rückkehr. Ich habe viel zu tun und komme vielleicht heute abend nicht heim.«
Der Junge nickte, verschwand in den Ställen, und Roger kehrte durch den Torbogen zurück. Otto Bodrugan stand im Hauseingang. Roger zögerte einen Augenblick, dann trat er auf ihn zu.
»Meine Herrin bittet Euch, mit Sir William, Lady Ferrers und Lady Isolda zu ihr zu kommen«, sagte er. »Ich rufe William und die Kinder.«
»Geht es Henry schlechter?« fragte Bodrugan.
»Er ist gestorben, Sir Otto. Vor etwa fünf Minuten, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben, friedlich schlafend.«
»Das tut mir leid«, sagte Bodrugan. »Aber es ist besser so. Ich bitte Gott, daß wir beide so friedlich scheiden dürfen, sobald unsere Zeit gekommen ist.« Beide Männer bekreuzigten sich, ich tat automatisch das gleiche. »Ich sage es den anderen«, fuhr er fort. »Lady Ferrers wird vielleicht hysterisch werden, aber das läßt sich nicht ändern. Wie geht es meiner Schwester?«
»Sie ist gefaßt, Sir Otto.«
»Das habe ich erwartet.«
Bodrugan blieb einen Augenblick stehen, bevor er ins Haus ging. »Weißt du, daß William, der noch minderjährig ist« – hier zögerte er ein wenig – »seine Erbländer dem König verpfändet, bis er volljährig wird?«
»Ich weiß, Sir Otto.«
»Die Konfiskation wäre unter gewöhnlichen Umständen kaum mehr als eine Formalität«, fuhr Bodrugan fort. »Als Williams angeheirateter Onkel, also sein gesetzlicher Vormund, müßte ich damit beauftragt werden, sein Grundeigentum zu verwalten, wobei der König nur oberster Lehnsherr wäre. Aber leider ist die Sache etwas anderes, denn ich habe ja an dem sogenannten Aufstand teilgenommen.« Der Verwalter schwieg taktvoll, und sein Gesicht blieb undurchdringlich. »Also wird jemand, der größere Achtung genießt als ich, das Heimfallsgut für den Minderjährigen und den König verwalten – wahrscheinlich mein Vetter Sir John Carminowe. Ich zweifle keinen Augenblick, daß er die Angelegenheit ganz im Interesse meiner Schwester ordnen
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