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Ein Tropfen Zeit

Titel: Ein Tropfen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daphne DuMaurier
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wird.«
    Die Ironie war unüberhörbar.
    Roger neigte den Kopf, ohne etwas zu sagen, und Bodrugan ging ins Haus. Der Verwalter unterdrückte ein zufriedenes Lächeln, als die jungen Champernounes mit ihrem Vetter Henry lachend und schwatzend in den Hof kamen; sie hatten die schwere Krankheit des Vaters wohl schon vergessen. Henry, der ältere, dachte wohl als erster wieder daran, denn er gebot den anderen beiden Schweigen und winkte William zu sich. Ich sah, wie das Gesicht des Knaben sich veränderte; anstelle des sorglosen Lachens erschien nun ein Ausdruck der Furcht, und ich konnte mir vorstellen, wie ihn plötzlich Angst befiel.
    »Ist es mein Vater?« fragte er.
    Roger nickte. »Nehmt Euren Bruder und Eure Schwester mit«, sagte er, »und geht zu Eurer Mutter. Vergeßt nicht: Ihr seid der älteste; und in den kommenden Tagen wird sie in Euch eine Stütze brauchen.«
    Der Junge klammerte sich an den Arm des Verwalters. »Du bleibst doch bei uns, nicht wahr?« fragte er. »Und mein Onkel Otto auch?«
    »Wir werden sehen«, antwortete Roger. »Aber Ihr seid jetzt das Familienoberhaupt.«
    William beherrschte sich mühsam. Er wandte sich nach den jüngeren Geschwistern um und sagte: »Unser Vater ist tot. Kommt mit.« Dann ging er ins Haus. Die erschreckten Kinder taten, wie er ihnen befohlen hatte, und nahmen ihren Vetter Henry bei der Hand. Als ich Roger ansah, bemerkte ich zum erstenmal so etwas wie Mitleid in seinem Gesicht, Mitleid und Stolz; der Junge, den er sicher schon von der Wiege auf kannte, hatte sich würdig gezeigt. Er wartete eine Weile, dann folgte er ihnen.
    Der Gang schien verlassen. Man hatte einen Wandteppich, der neben dem Herd hing, beiseite gezogen, und er gab den Blick auf die kleine Treppe zur oberen Kammer frei, die Bodrugan, die Ferrers und die Kinder soeben betraten. Ich hörte das Geräusch ihrer Schritte über mir; dann trat Stille ein, in der das Gemurmel des Mönchs vernehmbar wurde: »Requiem aeternam dona eis, Domine, et lux perpetua luceat eis.«
    Ich sagte, der Gang schien verlassen, und so war es bis auf die schlanke Gestalt in Lila: Isolda war als einzige nicht hinaufgegangen. Als Roger sie erblickte, blieb er auf der Schwelle stehen und näherte sich ihr dann respektvoll.
    »Lady Carminowe möchte dem Toten nicht gemeinsam mit der übrigen Familie die Ehre erweisen?« fragte er.
    Isolda hatte ihn nicht bemerkt, da er am Eingang gestanden hatte, aber jetzt wandte sie den Kopf und sah ihn an, und in ihren Augen war eine solche Kälte, daß sie mich, der ich hinter Roger stand, mit der gleichen Verachtung zu messen schien wie ihn.
    »Ich bin es nicht gewohnt, den Tod zu verhöhnen«, sagte sie.
    Wenn Roger überrascht war, so zeigte er es nicht, sondern wahrte die gleiche ehrerbietige Haltung wie zuvor. »Sir Henry wäre dankbar für Eure Gebete«, sagte er.
    »Er hat sie seit vielen Jahren regelmäßig empfangen«, antwortete sie, »und besonders häufig in den letzten Wochen.«
    Die Schärfe in ihrer Stimme war nicht zu überhören, und dem Verwalter mußte sie deutlich auffallen. »Sir Henry war seit seiner Wallfahrt nach Compostela leidend«, entgegnete er. »Es heißt, Sir Ralph de Beaupré leide heute an der gleichen Krankheit. Es war ein zehrendes Fieber, das sich nicht heilen läßt. Sir Henry war unachtsam, und es war schwer, ihn zu behandeln. Ich kann Euch versichern, daß alles getan wurde.«
    »Ich habe gehört, Sir Ralph de Beaupré sei trotz seines Fiebers noch im Besitz aller geistigen Kräfte«, sagte Isolda. »Mein Vetter aber war es nicht. Er erkannte seit einem Monat niemanden von uns wieder, und seine Stirn war kühl; das Fieber war also nicht hoch.«
    »Die Krankheit wirkt auf jeden anders«, antwortete Roger. »Was den einen heilt, schadet dem anderen. Wenn Sir Henry sich im Geist verirrte, so war das sein Unglück.«
    »Das durch die Arzneien, die man ihm gab, noch vergrößert wurde«, sagte sie. »Meine Großmutter Isolda Cardinham besaß das Kräuterbuch eines gelehrten Doktors, der an den Kreuzzügen teilgenommen hatte, und als sie starb, vermachte sie es mir, weil ich den gleichen Namen trug wie sie. Ich weiß einiges von den schwarzen und den weißen Mohnsamen, vom Wasserschierling, der Alraunwurzel und vom Schlaf, den sie verleihen.«
    Roger war aus seiner respektvollen Haltung aufgeschreckt und antwortete nicht gleich. Dann sagte er: »Die Apotheker verwenden diese Kräuter, um den Schmerz zu lindern. Der Mönch Jean de Meral wurde im Mutterkloster

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