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Ein Tropfen Zeit

Titel: Ein Tropfen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daphne DuMaurier
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viel ich sehen konnte, nichts Auffallendes. Am anderen Ende weideten Kühe. Ich kroch durch die Hecke, fand mich auf dem schrägen Weideland, etwa dreißig Meter höher als die Eisenbahnlinie, und sah direkt ins Tal.
    Ich zündete mir eine Zigarette an und überblickte die Gegend. Keine versteckten Kapellen, aber was für eine Aussicht: Rechts Treesmill-Farm, die anderen Höfe gegenüber und alle gleich unterhalb der Eisenbahnlinie, vor Wind und Wetter geschützt. Dahinter der seltsame Bogen des Tals, keine Felder mehr, sondern nur ein Dickicht aus Weiden, Birken und Erlen. Ich setzte mich vor die Hecke, um meine Zigarette zu Ende zu rauchen, als mir plötzlich das Fläschchen aus meiner Brusttasche wieder einfiel. Ich nahm es heraus und betrachtete es. Ein handliches Format. Ich fragte mich, ob es nicht Magnus' Vater gehört hatte; in seiner Seemannszeit wäre es gerade recht gewesen für einen Schuß Rum, wenn die Brise kühl wurde. Wenn Vita doch ungern flöge und statt dessen mit dem Schiff gekommen wäre, so hätte ich ein paar Tage mehr … Ein Geräusch unter mir lenkte meinen Blick ins Tal. Eine einsame Diesellok rollte über die Schienen, ohne die schweren Waggons, und ich sah ihr nach, wie sie gleich einer dicken Schnecke über den Weiden und Birken hinkroch, unter der Brücke oberhalb von Treesmill durchfuhr und schließlich in den offenen Schlund des Tunnels eine Meile weiter tauchte. Ich schraubte die Flasche auf und trank den Inhalt.
    Nun ja, was soll's? sagte ich mir. Ich bin kaltblütig, und Vita befindet sich noch mitten über dem Atlantik. Ich schloß die Augen.

6
    Dieses Mal saß ich reglos, den Rücken zur Hecke gewandt und mit geschlossenen Augen da und wollte versuchen, den genauen Zeitpunkt des Übergangs in die andere Welt festzuhalten. Zuvor war ich über die Felder, dann über den Friedhof gegangen, als das Bild sich veränderte. Jetzt würde es gewiß anders sein, weil ich mich auf den Augenblick konzentrierte, in dem die Wirkung eintreten würde. Das Wohlgefühl würde mich wieder überkommen, als nähme man mir eine schwere Last ab, und zugleich würde in meinem Körper ein Gefühl grenzenloser Leichtigkeit aufsteigen. Heute empfand ich keine Angst, und es fiel kein trüber Regen. Es war sogar warm, und die Sonne brach durch die Wolken – ich sah ihren Glanz durch die halbgeschlossenen Lider. Ich nahm einen letzten Zug von meiner Zigarette und ließ sie dann fallen.
    Wenn diese einschläfernde Zufriedenheit länger anhielt, würde ich vielleicht sogar einnicken. Selbst die Vögel jubelten im plötzlich hervorbrechenden Sonnenschein; irgendwo in der Hecke hinter mir hörte ich eine Amsel singen, und noch schöner klang der Ruf des Kuckucks, zuerst aus der Ferne vom Tal herauf, dann ganz in der Nähe. Ich lauschte dem Ruf, einem besonders lieblichen Laut, der sich mit der Erinnerung an sorglose Streifzüge verband, die ich hier vor dreißig Jahren als Knabe unternommen hatte. Da rief er noch einmal, unmittelbar über mir.
    Ich öffnete die Augen und beobachtete seinen seltsam unsteten Flug, gleichzeitig jedoch fiel mir ein, daß es schon Ende Juli war. Der kurze englische Sommer des Kuckucks aber endet bereits im Juni, zur gleichen Zeit wie das Lied der Amsel, und die Schlüsselblumen, die am Ufer an der Böschung neben mir standen, wären schon Mitte Mai verblüht. Diese Wärme und diese Helligkeit gehörten einer anderen Welt an, einem vergangenen Frühling. Es war also trotz meiner Konzentration geschehen, in einem Augenblick, den mein Gehirn nicht wahrgenommen hatte. All das helle Grün des Tages breitete sich auf dem Hang unter mir aus, und das Tal mit seinem Dickicht von Birken und Weiden lag unter Wasser. Ich stand auf und sah, wie der Fluß sich verengte, bis er mit dem polternden Mühlbach unterhalb von Treesmill zusammenfloß. Das Bauernhaus hatte eine andere Gestalt angenommen, es war schmal, strohgedeckt, und auf dem Hügel gegenüber wuchs dichter Eichenwald mit jungem, frühlingshaft zartem Laub.
    Unter mir, wo das Feld sich über den Einschnitt der heutigen Bahnlinie vorgeschoben hatte, fiel der Boden sanfter ab; in der Mitte lief ein breiter Fahrweg zur Flußmündung und endete in einem Kai, an dem einige Boote vertäut lagen. Ein größeres Schiff war in der Mitte des Flusses verankert, das Segel halb gerafft. Ich hörte die Männer an Bord singen, und während ich hinübersah, stieß ein kleineres Boot ab, um jemand zum Ufer zu bringen, und die Stimmen verstummten

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