Ein unbeschreibliches Gefuehl
hinweg das Verständnis von Liebe. Tatsächlich, sagt Luhmann, ändert sich der Code. Denn Systeme, auch wenn sie ganz auf sich selbst bezogen sind, unterliegen trotzdem Einflüssen von außen. Sie sind ja gegen die Umwelt nicht blind und taub, sondern vielmehr »umweltoffen«, wie Luhmann es nennt. Sie beobachten sich selbst und ihre Umwelt schon deshalb, um sich der Differenz zwischen beidem zu vergewissern. Und umgekehrt werden sie auch von der Umwelt beobachtet. So findet eine gegenseitige Beeinflussung statt. Das psychische System »Ich« etwa beobachtet sich und die Umwelt, die »Nicht-Ich« heißt. Das Intimsystem »wir zwei« beobachtet sich und die Umwelt, die »die anderen« heißt. Und so weiter. Auf diese Weise finden ständig Veränderungen statt. Das ist letztlich Evolution: die fortwährende Ausdifferenzierung von Systemen in Offenheit zu ihrer Umwelt.
In seinem Buch »Liebe als Passion« (1982) hat Niklas Luhmann diese Veränderung und Ausdifferenzierung des Kommunikationsmediums »Liebe« im Verlauf mehrerer Jahrhunderte untersucht. Der Untertitel des Buches lautet »Zur Codierung von Intimität«. Denn es wird der Code untersucht, mit dessen Hilfe zu verschiedenen Zeiten Intimität beziehungsweise das Intimsystem »Paar« hergestellt wurde. Das Werk ist schwerpunktmäßig literaturhistorisch, weil Luhmann den Buchdruck als revolutionäre Veränderung der Kommunikation begreift: Durch Bücher werden Codes viel effektiver reflektiert als zuvor. Das gilt vor allem für den Liebescode: Seit 400 Jahren bestimmt die Romanliteratur, vor allem die triviale, was Liebe zu sein und wie sie sich zu äußern habe und woran sie folglich erkennbar sei. »Schon im 17. Jahrhundert weiß man: die Dame hat Romane gelesen und kennt den Code. Das steigert ihre Aufmerksamkeit. Sie ist gewarnt – und eben dadurch gefährdet. Etwas später wird auch der empfindsame Mann Opfer des Romans.«
Warum aber wird Liebe überhaupt als Passion, als Erleiden, beschrieben? Luhmann stellt fest: Der Liebescode handelt seit vielen Jahrhunderten von Idealen – was wir seit dem Kapitel über Platon bestätigen können. Liebe begründet und rechtfertigt sich dadurch, dass sie ihrem Gegenstand Vollkommenheit zuschreibt. Und zwar nach diesem Muster: Weil der geliebte Gegenstand perfekt ist, kann ich nicht anders, als ihn zu lieben. Ich bin machtlos, überwältigt, meine Liebe ist folglich – Passion! Die Gottesliebenden des Mittelalters wie etwa Giordano Bruno haben uns das in teilweise erschreckender Konsequenz vorgeführt.
Jahrhunderte hindurch ist nun das geliebte Ideal durch seine Unerreichbarkeit definiert. Noch die Minnesänger und Dante leiden darunter. Doch dann, im 17. Jahrhundert, geschieht eine Veränderung: An die Stelle der Unerreichbarkeit tritt das Spiel mit der Verführung – der Verführung Verheirateter wohlgemerkt. Damit wird aus der Passivität Aktion und aus der Idealisierung die Paradoxierung. Mit deren Hilfe wird ein Zustand beschrieben, der sich vom Normalen unterscheiden soll. So wird die Liebe etwa als Krankheit beschrieben, von der man nicht gesunden wolle, als Blindheit, die sehend mache, als Selbstunterwerfung unter einen Erobernden und so weiter. Liebe wird damit zu einem widersprüchlichen Geschehen, das vor allem eins beinhaltet: Maßlosigkeit! »Der Exzess selbst ist das Maß des Verhaltens … Liebe totalisiert. Sie macht alles relevant, was irgendwie mit der Geliebten zusammenhängt, bis hin zur Bagatelle … Das gesamte Erleben und Handeln der Geliebten erfordert kontinuierliche Beobachtung und Überprüfung.«
Um die Wende zum 19. Jahrhundert, in der Romantik, verändert sich der Code dann noch einmal. Nachdem zuvor die Liebe die Grenzen der adligen Welt Richtung Bürgertum überschritten hat, entsteht dort nun ein eigener, als tugendhaft geltender Liebes- und Ehebegriff, mit dem man sich gegen den als lasterhaft empfundenden Adel abgrenzt. Und jetzt rückt endgültig das (bürgerliche) Individuum in seiner Einzigartigkeit in den Mittelpunkt. Damit jedoch entsteht ein neues Problem: »Je individueller das Persönliche gedacht wird, desto unwahrscheinlicher wird es auch, dass man Partner mit erwarteten Eigenschaften trifft. « Und als ob das nicht schon schwierig genug wäre, entsteht gleichzeitig ein neues Paradox: »Es gilt, in der Selbsthingabe das Selbst zu bewahren und zu steigern.« Es geht um das »Identischbleiben beim Aufgehen im Anderen«. Nichts mehr und nichts weniger soll die
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