Ein unbeschreibliches Gefuehl
jeweiligen Systems zueinander haben.
Wer einmal versucht hat, etwas aus einer Fremdsprache ganz genau ins Deutsche zu übersetzen oder in einer fremden Sprache einen Witz zu reißen, der weiß, was de Saussure gemeint hat. Viele Wörter haben in einer anderen Sprache eine mitschwingende andere Bedeutung. Und das liegt eben nicht an dem Gegenstand, den das Wort bezeichnet, sondern an der Sprache selbst, also dem Bezugssystem, zu dem das Wort gehört. Die Sprache als Gesamtheit (»la langue«), als System, existiert nach de Saussure freilich nur in der Gesamtheit aller, die sie gebrauchen. Von der »langue« unterscheidet er die »parole«, den individuellen Sprachgebrauch des Einzelnen.
Auf de Saussure baute die sozial- und geisteswissenschaftliche Richtung des Strukturalismus auf. Dessen Vertreter gingen davon aus, dass man einen Text oder eine mündliche Überlieferung, um zu verstehen, statt auf den jeweiligen Inhalt besser auf den Zusammenhang zwischen den Zeichen befragen muss, also auf die Struktur des Erzählten. Zum Beispiel kann man nach verborgenen Gegensatzpaaren suchen.
Der Strukturalismus war nicht nur eine philosophische Richtung. Er fand einflussreiche Vertreter etwa in der Ethnologie und deren Beschäftigung mit den Mythen primitiver Völker und ebenso in der Psychoanalyse – jenem kurz zuvor von Sigmund Freud entwickelten Behandlungsverfahren und dazugehörigen Erklärungsmodell der Psyche, wonach der Mensch von Kräften in seinem Unbewussten gesteuert wird. Nach Freud sei das menschliche Verhalten auf sexuelle oder aggressive Energie rückführbar, die sich unter anderem in Träumen und Mythen symbolisch verkleidet zeige. Seine Erkenntnis, dass das Ich vom Unbewussten überwältigt werden kann und »nicht Herr im eigenen Haus« ist, hat Freud selbst als die dritte, die psychologische Kränkung der Menschheit bezeichnet. Die erste Kränkung ist die kosmologische durch Kopernikus, der den Menschen vom Mittelpunkt des Universums an dessen Rand rückte. Die zweite Kränkung ist die biologische, verursacht durch Darwin, der den Menschen in den Prozess der Evolution einreihte und ihm damit seine Einzigartigkeit nahm.
Um die Mitte des 20. Jahrhunderts verband der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan dann, grob gesagt, Freud und de Saussure. Er stellte die Theorie auf, das Unbewusste, das Freud in den Mittelpunkt gerückt hatte, sei wie eine Sprache strukturiert. Unter »Sprache« versteht Lacan aber, anders als de Saussure, mehr als nur den Bereich verbaler Äußerungen. Für ihn gehören neben den Wörtern auch die sozialen Normen und Beziehungen, ja sogar Gegenstände und Handlungen in jenen Bereich des Symbolischen, der für uns sprachlich strukturiert ist, in dem wir uns bewegen, der unsere Wirklichkeit darstellt und den wir nicht verlassen können. Lacan sagt: Es ist unmöglich, die Oberfläche all dieser Bedeutungsträger zu durchstoßen, um zu den Bedeutungen selbst als zu einer tieferen Schicht vorzudringen. Mit diesem Gedanken hat er den Poststrukturalismus inspiriert, eine geisteswissenschaftliche Richtung, die auf jegliche Suche nach Sinn und Wahrheit zugunsten eines pluralistisch-spielerischen Umgangs mit möglichen Bedeutungen verzichtet.
Freud hatte erkannt, dass wir nicht Herr unseres Fühlens und Handelns sind, und Lacan hatte geschlussfolgert, dass wir nicht Herr über das Verständnis dessen sind, was wir sagen und tun. Was daraus für den Umgang mit dem Wort »Liebe« und all den anderen dazugehörigen Äußerungen folgt, zeigte dann Lacans Landsmann Roland Barthes. In der Betrachtung literarischer und alltäglicher Texte setzte der Philosoph und Literaturkritiker Barthes das Spiel mit möglichen Bedeutungen an die Stelle der einen, ein für alle Mal festgelegten Wahrheit. In seinem Buch »Fragmente der Liebe« (frz. »Fragments d’un discours amoureux«, 1977; dt. 1984) betrachtete er auf diese Weise achtzig »Sprachszenen« oder auch Figuren, wie er es nannte: von A wie »Abhängigkeit« über I wie »Ich-liebe-dich« und L wie »Liebeserklärung« bis Z wie »Zugrundegehen«. Die alphabetische Ordnung verwendete er, um jeglichen Anschein zu vermeiden, er wolle durch die Aneinanderreihung der Fragmente eine in sich zusammenhängende Geschichte erzählen.
Schauen wir uns die Sprachszene »Ich-liebe-dich« bei Barthes an, und zwar jenes »Ich-liebe-dich«, das nicht das allererste Geständnis ist, sondern dessen Wiederholung im Verlauf einer Liebesbeziehung. In mehreren
Weitere Kostenlose Bücher