Ein unbezaehmbarer Verfuehrer
Alistair.
Lady Grey schnaufte tief und drehte sich auf ihrer Decke um.
Helen schloss die Tür des Turmzimmers hinter sich und schmunzelte in sich hinein. Ha! Diese Runde gegen Graf Grimmig dürfte an sie gegangen sein. Ehe er sie zurückrufen konnte, eilte sie auch schon die Treppe hinunter. Die Stufen waren alt und ausgetreten, die Wände aus blankem Stein. Am Fuße der Treppe gelangte man in einen schmalen Flur, der ebenfalls düster und voller Spinnweben, aber immerhin getäfelt und mit einem Teppich versehen war.
Sie hoffte, dass Sir Alistair sein Frühstück nicht allzu kalt genießen musste, aber wenn doch, so hatte er selber schuld. Sie hatte nämlich eine ganze Weile gebraucht, um ihn ausfindig zu machen. Jeden einzelnen der bedrückenden Räume hatte sie abgeklappert, bis ihr schließlich die Idee kam, es in den Türmen zu versuchen. Das hätte sie sich ja denken können, dass er dort oben im Turm hockte — wie das Ungeheuer in einer Schauergeschichte. Ehe sie zu ihm hineinging, hatte sie versucht sich zu entspannen, um ihn nicht abermals anzustarren. Glücklicherweise trug er heute Morgen eine Augenklappe. Doch sein schwarzes Haar hing noch immer zottelig bis auf die Schultern, und er sah aus, als hätte er sich seit mindestens einer Woche nicht mehr rasiert. Es würde sie nicht überraschen, wenn er das absichtlich machte, um noch abschreckender zu wirken.
Und dann war da seine Hand gewesen ...
Die Erinnerung daran ließ Helen innehalten. Gestern war ihr das nicht aufgefallen, aber als sie heute Morgen das Turmzimmer betreten hatte, hielt er ein Blatt Papier in der Hand — zwischen dem Daumen und den beiden mittleren Fingern. Zeige und kleiner Finger fehlten. Wie war er zu so grausamen Verstümmelungen gekommen? Ob er einen Unfall gehabt hatte? Und wenn ja, hatte ihn dieser auch das Auge geraubt und sein Gesicht entstellt? Vermutlich wüsste er weder ihr Mitgefühl, geschweige denn ihr Mitleid zu schätzen.
Sie biss sich auf die Lippe. Aber genau das hatte sein Anblick heute Morgen bei ihr geweckt. Mürrisch und verwahrlost war er, unhöflich und sarkastisch. Nichts anderes hatte sie nach dem gestrigen Empfang erwartet. Aber da war noch etwas anderes gewesen. Wie er da an seinem großen Tisch gesessen hatte, verschanzt hinter seinen Büchern und Papierstapeln und dem sonstigen Durcheinander, hatte er so ...
So schrecklich einsam und verloren gewirkt.
Helen schüttelte den Kopf. Nein, jetzt war sie wirklich albern. Er würde sie mit einer bissigen Bemerkung abfertigen, wenn sie ihm sagen würde, welchen Eindruck er auf sie machte. Nie war sie einem Mann begegnet, der sich so sehr gegen die Sorge und das Wohlwollen seiner Mitmenschen sträubte. Doch es ließ sich nicht ändern: Er war ihr furchtbar einsam vorgekommen. Und er hatte ihr leidgetan, wie er hier so allein lebte, fernab der Zivilisation, in diesem elend heruntergekommenen Gemäuer, wo nur ein alter Hund ihm Gesellschaft leistete. Konnte man, selbst wenn man den Menschen nicht sehr zugetan war, unter diesen Umständen überhaupt jemals glücklich sein?
Nachdenklich kehrte sie in die Küche zurück. Im Augenblick war in ihrem Leben kein Platz für derart sentimentale Gedanken. Sie durfte sich nicht von ihren Gefühlen, und seien sie noch so harmlos, hinreißen lassen. Einmal war ihr das passiert — und nun sah man ja, was sie davon hatte. Nein, sie würde die Sache ganz vernünftig angehen. Schließlich musste sie auch an Abigail und Jamie denken.
Als Helen um die Ecke bog, hörte sie schon lautes Geschrei aus der Küche. Gütiger Gott! Was, wenn ein Landstreicher oder anderes Lumpengesindel ins Haus eingedrungen war? Abigail und Jamie waren ganz allein in der Küche! Helen raffte die Röcke und rannte so schnell, dass sie völlig außer Atem in die Küche stürzte.
Der Anblick, der sich ihr dort bot, war wenig angetan, ihre Befürchtungen zu zerstreuen. Ein komischer Kauz von einem Mann stand in der Küche, fuchtelte wild mit den Armen und schrie ihre Kinder an. Abigail hielt eine gusseiserne Pfanne in beiden Händen und schien zu allem entschlossen, wenngleich kreidebleich im Gesicht; Jamie hüpfte hinter seiner Schwester von einem Bein aufs andere, die Augen riesengroß vor Aufregung.
„... allesamt! Mörder und Diebe, treib'n sich überall rum, wo sie nichts verlor'n hab'n! Häng'n sollt' man euch, allesamt!"
„Raus!", brüllte Helen. Drohend ging sie auf den garstigen Kerl zu, der es wagte, sich hier hereinzuschleichen und
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