Ein unbezaehmbarer Verfuehrer
Richtung Norden aufgebrochen waren, hatte die Viscountess Helen gebeten, eine Reinschrift der Übersetzung anzufertigen, die sie für Lady Emeline binden lassen wolle. Während der langen Fahrt nach Schottland hatte Helen den Kindern immer wieder daraus vorgelesen. Mittlerweile kannten sie die Märchen fast auswendig und liebten sie heiß und innig.
Helen warf einen Blick aus dem Fenster. Sie fuhren an grünen, von violettem Heidekraut bestandenen Hügeln vorbei. Bald würden sie das Dorf Glenlargo erreichen, wo sie, wäre sie noch Graf Grimmigs Haushälterin, etwas zu essen gekauft hätte. Irgendetwas Schmackhafteres als vertrockneten Speck und Haferflocken.
Wäre sie nur nicht so schrecklich unfähig! Zu nichts war sie nutze. Ihr halbes Leben hatte sie als Gespielin eines reichen Gentleman zugebracht. Nie hatte sie irgendetwas gelernt, das von praktischem Nutzen sein könnte.
Nein, so ganz stimmte das nicht. Vor langer, langer Zeit, vor Lister und bevor sie den Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen hatte, als sie noch jung und unschuldig gewesen war, hatte sie ihren Vater bei seinen Visiten begleitet. Papa war Arzt gewesen, ein ziemlich guter sogar, und hatte sie oft mit zu seinen Patienten genommen. Natürlich war sie ihm nicht richtig zur Hand gegangen — eine solche Aufgabe schickte sich nicht für ein junges Mädchen —, aber sie hatte stets ihr kleines Notizbuch dabeigehabt, in dem sie die Beobachtungen ihres Vaters festhielt, seinen Terminkalender führte und fein säuberlich Listen erstellte.
Viele Listen.
Sie war Papas rechte Hand gewesen, hatte Ordnung in sein Leben und seine Arbeit gebracht. Keine große Angelegenheit, aber eine von großer Bedeutung. Und wie sie nun so darüber nachdachte — war es nicht genau das, was eine Haushälterin tat? Organisieren, Ordnung schaffen? Natürlich sollte sie wissen, wie man putzt und einen Haushalt führt, aber bestand ihre Aufgabe nicht meist darin, diese Arbeiten an andere weiterzugeben?
Helen setzte sich so unversehens auf, dass Abigail mitten im Satz verstummte. „Was ist, Mama?"
„Moment, Liebling, lass mich nachdenken. Mir kam da eben eine Idee." Mittlerweile waren schon die ersten Häuser von Glenlargo zu sehen. Es war ein kleines Dorf, mit London nicht zu vergleichen, aber es gab hier alles, was man zum Leben brauchte: Geschäfte, Handwerker — und gewiss Menschen, die eine Stellung suchten.
Helen versuchte, sich in der schwankenden Kutsche aufzurichten und klopfte kräftig ans Dach. „Halt!", rief sie. „Anhalten!"
Der Wagen blieb mit einem Ruck stehen, was sie zurück auf ihren Sitz warf.
„Was machen wir jetzt?", fragte Jamie aufgeregt.
Helen lachte hell auf. „Jetzt holen wir uns Verstärkung."
Alistair verbrachte den Nachmittag schreibend in seinem Turmzimmer — zumindest versuchte er zu schreiben. Wie so oft in den letzten Tagen fand er einfach nicht die richtigen Worte. Stattdessen füllte er den Papierkorb mit zerknüllten Blättern voll durchgestrichener Versuche, eine Abhandlung über Dachse zu formulieren. Nicht mal der erste Satz wollte ihm gelingen. Einst war ihm das Schreiben so leichtgefallen wie das Atmen, doch jetzt ... jetzt fürchtete er, nie wieder etwas zuwege zu bringen. Wie ein Narr kam er sich vor, ein am Boden zerstörter Narr.
Um vier Uhr fiel ihm auf, dass Lady Grey nicht mehr auf ihrem Platz vor dem Kamin lag, was ihm eine willkommene Ausrede bot, seine kläglichen Versuche aufzugeben und sich auf die Suche nach der alten Hündin zu machen. Außerdem hatte er Hunger. Seit seinem fast ungenießbaren Frühstück hatte er nichts mehr gegessen.
Still war es, als er die Turmtreppe hinunterging. Eigentlich war es ja immer still, aber gestern Abend, als Mrs Halifax und ihre Kinder noch da gewesen waren, war ihm die Burg weniger tot erschienen. Er schüttelte den Kopf angesichts dieses trübsinnigen Gedankens. Heute früh hatte er Mrs Halifax abreisen sehen und sich gefreut, endlich wieder seine Ruhe zu haben; Wiggins störte ihn ja nicht weiter. Es war gut, allein zu sein. Gut, nicht bei der Arbeit unterbrochen zu werden.
Wenn er denn arbeiten könnte!
Schlecht gelaunt erreichte Alistair die Halle und beschloss, zuerst in seinen Gemächern nachzusehen. Nachmittags machte Lady Grey gern am Fenster ein Nickerchen und ließ sich die Sonne aufs Fell scheinen. Doch die Räume waren, wie er sie heute Morgen verlassen hatte: leer und unaufgeräumt. Mit gerunzelter Stirn blickte er auf das zerwühlte Bett, Decke und
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