Ein unbezaehmbarer Verfuehrer
Hinter sich konnte sie noch immer Mr Wiggins zetern hören.
„Wehe, du sagst was! Haste mich gehört? Wehe, du sagst was!"
Gereizt blickte Lister aus dem Fenster seines Studierzimmers. „Am besten, ich fahre selbst nach Norden."
Henderson seufzte hinter ihm. „Euer Gnaden, es ist erst wenige Tage her. Die Männer, die wir ausgeschickt haben, sind wahrscheinlich noch gar nicht in Edinburgh angelangt."
Lister fuhr herum. „Und bis sie dort sind und mir Nachricht schicken können, ist sie längst über alle Berge."
„Wir haben getan, was wir konnten", verteidigte sich der Sekretär.
„Genau. Deshalb werde ich selbst in den Norden reisen."
„Aber, Euer Gnaden ..." Henderson schien um Worte zu ringen. „Sie ist doch nur eine Lebedame. Ich hätte nicht gedacht, dass unsere Gefühle derart involviert sind."
„Sie ist mein, und sie hat mich verlassen." Lister maß seinen Sekretär mit kühlem Blick. „Sie hat sich mir widersetzt. Keiner widersetzt sich mir!"
„Gewiss doch, Euer Gnaden."
„Die Sache ist entschieden." Lister wandte sich wieder dem Fenster zu. „Treffen Sie die nötigen Vorbereitungen. Ich werde morgen nach Schottland aufbrechen."
10. Kapitel
Am nächsten Abend ließ Wahrsprecher abermals die Schwalben frei, und wieder jagte der schöne junge Mann ihnen hinterher. Stumm stand Wahrsprecher da und sah die Sonne untergehen und das Ungeheuer die Gestalt der schönen Prinzessin annehmen.
Dann fragte er: „Wie ist Euch dieses Unglück wider fahren?"
Die Prinzessin seufzte schwer. „Der Mann, dem du dienst, ist ein böser Zauberer. Eines Tages, als ich mit meinem Hofstaat ausgeritten war, ist sein Blick auf mich gefallen. Noch am selben Abend suchte er meinen Vater auf und hielt um meine Hand an. Ich habe sein Ersuchen abgelehnt, denn er ist ein sehr schlechter Mensch. Natürlich war er außer sich vor Zorn. Er hat mich aus meines Vaters Schloss entführt und hierhergebracht. Ein böser Zauber liegt auf mir, der mich bei Tag in dieses grässliche Tier verwandelt. Nur des Nachts kann ich noch ich selbst sein. Geh jetzt. Er darf nicht wissen, dass du mit mir sprichst."
Und wieder sah Wahrsprecher sich zum Rückzug gezwungen ...
Aus „Der Wahrsprecher"
D er Brief aus Frankreich traf am späten Nachmittag ein. Alistair war in Gedanken noch bei dem, was soeben mit Helen geschehen war und später am Abend noch geschehen könnte, weshalb er ihn inmitten des Papierstapels, den ihm der Lakai hinauf ins Turmzimmer brachte, beinahe übersehen hätte. Er bezog mehrere Journale und Zeitungen aus London, Birmingham und Edinburgh, die meist alle zusammen einmal in der Woche eintrafen. Ganz zuunterst lag ein schon etwas ramponiertes Schreiben, das aussah, als hätte es noch einen Umweg über das Horn von Afrika gemacht, was angesichts Englands derzeitiger Beziehungen zu Frankreich nicht ganz abwegig wäre.
Alistair nahm den Brief und schlitzte ihn mit dem scharfen Messer auf, das er zuletzt zum Sezieren einer Wühlmaus benutzt hatte. Er las ihn, las manchen Abschnitt noch einmal, und warf ihn dann zu all den anderen Papieren, die auf seinem Schreibtisch lagen. Er stand auf, ging unruhig auf und ab, trat ans Fenster und blickte hinaus. Etienne hatte seine Worte vorsichtig gewählt, doch die Botschaft war klar. In Kreisen der französischen Regierung kursierten Gerüchte, dass es tatsächlich einen englischen Spion gegeben habe, der die Position des 28. Infanterieregiments verraten und das Massaker von Spinner's Falls so erst möglich gemacht hatte. Mehr noch: Gerüchten zufolge sollte der Spion ein Engländer von Stand sein. Alistair trommelte mit den Fingern auf das Fenstersims. Das war tatsächlich eine Neuigkeit.
Etienne schrieb weiter, dass er dem Papier mehr nicht anvertrauen, aber sehr gern persönlich mit Alistair sprechen wolle. Er begebe sich dieser Tage an Bord eines Schiffes, das in zwei Wochen in London vor Anker gehen werde. Wenn Alistair sich zur besagten Zeit einfinden wolle, könne Etienne ihm weitere Informationen geben.
Alistair strich über die Narben, die seine linke Gesichtshälfte verunstalteten. Endlich Gewissheit zu haben, dass jemand all dieses Leid vorsätzlich zu verantworten hatte, ließ kalten Zorn in ihm aufsteigen. Sein Entschluss stand fest: Er würde den Verräter finden. Das änderte zwar nichts an dem, was geschehen war, es würde sein Gesicht nicht unversehrt machen, doch die Stimme der Vernunft war machtlos gegen das rasende Biest, das in ihm tobte. Bei Gott, der
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