Ein unverbindliches Ja
Der Handabdruck war bei ihr genau zu sehen, er zeichnete sich rot vom restlichen Weiß ihres Gesichts ab. Wir schauten uns an und mussten beide gleichzeitig weinen. Gemeinsam rannten wir aus dem Klassenzimmer.
Daheim angekommen gelang es mir leider nicht mich unbemerkt in mein Zimmer zu schleichen. Mama machte mir einen Strich durch die Rechnung. Verwundert, wieso ich so früh nach Hause kam, fragte sie: »Ist schon wieder der Musikunterricht ausgefallen?« Sie schaute mir ins Gesicht und sah sofort, was geschehen war. Der Handabdruck von dieser Qualle hatte es verraten. »Um Gottes Willen, was ist denn passiert?«
Ich brach wieder in Tränen aus, schließlich saß mir der Schreck immer noch in den Knochen und meine Knie zitterten. »Nein, der Musikunterricht hat stattgefunden. Leider. Ich hab die Schule verlassen, weil Frau Wilke mich geschlagen hat.«
Kurze Schluchzpause.
»Wie, Frau Wilke hat dir eine verpasst?«
»Ja, das sagte ich doch bereits, aber nicht nur mir, Suse auch.«
»Was habt ihr denn ausgefressen?«
»Es war in der Musikstunde …«
»So weit waren wir bereits«, unterbrach mich Mama ungehalten. »Schließlich unterrichtet sie nichts anderes bei euch. Und weiter?«
»Suse und ich haben den verkehrten Text gesungen.«
»Und das war alles?«
»Ja, das war alles.«
So ganz schien sie mir das nicht zu glauben. »Sicher?«, vergewisserte sie sich.
»Jaaaa!«
»Aber deswegen schlägt man doch nicht gleich. Habt ihr schon öfter geschlafen und den falschen Text gesungen?« Scheinbar wollte sie der Sache auf den Grund gehen.
»Nein, Mama, das war ganz bestimmt das erste Mal. Andernfalls hätte sie uns doch schon früher eine geknallt.«
»Mensch, muss die aber überfordert sein.«
Weinend: »Ich gehe nie wieder in die Schule.«
Mama zog sich ihre Jacke über.
»Wo willst du hin?«, fragte ich sie ängstlich.
»Na, zu Frau Wilke, die Stunde ist ja noch nicht vorbei. Wenn ich jetzt losfahre, müsste ich sie noch erwischen. Ich werde dieser Lehrerin mal ein paar Takte erzählen. So weit kommt es noch, dass du dich nicht mehr in die Schule traust.« Sie zwinkerte mir zu.
»Und sorg dafür, dass ich von nun an in der letzten und nicht mehr in der ersten Reihe sitze. Wenn mich dann in Zukunft irgendein wild gewordener Lehrer verprügeln will, bin ich schneller aus der Tür hinaus, als er gucken kann.«
Mama lächelte und zog die Tür hinter sich zu. Mein schlechtes Gewissen plagte mich. Was würde passieren, wenn die olle Wilke ihr erzählte, welchen Text wir gesungen hatten? Und das würde sie bestimmt tun. Vielleicht wechselte Mama dann die Seiten. Womöglich bekam ich daraufhin von ihr auch noch was zu hören – gar nicht auszudenken.
Ich ging rüber zu Opa, um ihm alles anzuvertrauen. Er wohnte gleich im Nachbarhaus. Ihm konnte ich die Geschichte in allen Einzelheiten erzählen. Er hielt immer zu mir, egal was war. Bei meiner Fünf in Mathe hatte er mir zum Trost erst mal ein Eis ausgegeben. Als ich ihm nun die ganze Sache erklärte und ihm meine Befürchtungen mitteilte, wie Mama den Vorfall aufnehmen könnte, erzählte er mir aus seiner Jugend. Er selbst war auch einmal vom Lehrer geschlagen worden. Das hätte ich nie für möglich gehalten.
Gespannt fragte ich nach: »Und warum? – Opa, was hattest du denn ausgefressen?«
»Nur dazwischengeredet, mehr nicht. Das war alles. Früher, zu meiner Zeit, ging es noch wesentlich strenger zu.«
»Und erzähl schon, was dann?«
»Na ja, ich habe zurückgeschlagen und bin von der Schule geflogen.«
»Wow.« Mir fehlten die Worte.
»Und Mareike, das Beste an der Sache: Ich würde es jederzeit wieder tun. Deine Mutter kennt die Geschichte und wird dir bestimmt nicht den Kopf abreißen.«
Nach einer kurzen Denkpause fügte er noch hinzu: »Falls es doch Ärger geben sollte, hätte ich da noch etwas für dich.«
Er stand auf und kramte aus seinem Sekretär einen Zettel hervor.
»Dieser Brief hier ist mir letztens in die Hände gefallen. Er wurde am 30.09.1968 verfasst.«
Ich war gespannt wie ein Flitzebogen, was jetzt kam.
Mein Großvater begann sogleich, ihn mir vorzulesen:
»Rheingau-Schule, Berlin–Friedenau.
Sehr geehrter Herr Hering!
Ich möchte Ihnen zur Kenntnis geben, dass Inke am 22.09. zum achten Mal in diesem Schulhalbjahr getadelt wurde, weil sie den Englischunterricht durch dauerndes Schwatzen störte. Dieser Tadel ist auf dem Zeugnis gar nicht mehr vermerkt worden. Es dürfte für Sie jedoch wissenswert sein, dass
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