Ein unverbindliches Ja
schon dabei? Wir kloppen uns doch auch jeden Tag. Letztens hast du mich sogar in den Arm gebissen, schon vergessen?«
»Das war Notwehr, und außerdem kann man das nicht vergleichen. Wir sind Kinder, wir dürfen das. Aber bei Erwachsenen ist so ein Verhalten nicht normal.«
»Was ist bei denen denn schon normal? Etwa dass Mama gestern bei ihrem letzten Streit während der Fahrt aus dem Auto gesprungen ist?«
»Nein, natürlich nicht.«
Annika senkt betreten den Blick und denkt nach. Sie sieht ganz traurig aus.
»Na also – sie sind halt nicht normal, das weißt du doch, und jetzt gehe bitte wieder in dein Bett. Ich will schlafen.«
Unverstanden klettert Annika die Holzleiter unseres Etagenbettes hoch, lässt sich auf ihre Matratze fallen und sagt keinen Ton mehr. Bestimmt ist sie wieder beleidigt.
Das Knarren der Dielen holt mich in die Gegenwart zurück. Suse kommt angeschlichen und setzt sich mir gegenüber. Mich beschäftigt meine Vergangenheit so sehr, dass ich das Gefühl habe, schwer Luft zu bekommen. Ich fühle mich kurzatmig. Es macht mich unendlich traurig, dass mein Vater so mit meiner Mutter umsprang. Suse versetzt sich unwahrscheinlich gut in meine momentane Lebenssituation, versteht die Zweifel und Ängste in mir. Ihr Versuch, mich zu trösten, tut gut, denn zu gerne lässt sie die schönen Momente unserer gemeinsamen Kindheit aufleben.
»Weißt du noch, als …«
Eine beliebte Vorgehensweise, wie ich sie aus der Eheberatung kenne. Das Paar wird an seine wunderbaren Momente erinnert, was angenehme Emotionen erzeugen soll. »Wie haben Sie sich kennengelernt?« Und schon wandeln sich die vergrämten Gesichtszüge und oftmals folgen dann sogar sehr liebevolle Schilderungen aus der Kennenlernphase.
An eine von Suses zahlreichen ›Weißt-du-noch‹-Geschichten kann auch ich mich noch ganz genau erinnern:
Wir waren in der fünften Klasse und sollten endlich unsere Bio-Klassenarbeiten zurückbekommen. Ich hatte ein bombiges Gefühl, schließlich war Suse bestens vorbereitet gewesen …
Herr Schönemann, unser Lehrer, betrat das Klassenzimmer, begrüßte uns und öffnete seine schwarze Aktentasche. Er legte unsere Arbeiten vor sich auf das Pult, schaute zu Suse und sagte, dass er mit ihrem Test sehr zufrieden sei. Es war nun schon die vierte Zwei in Folge. Nur eins wollte er noch von ihr wissen: »Wie kommst du eigentlich bei der Frage nach der Bienenentwicklung auf: ›Puppe, langsame Biene, Biene‹?«
Suse antwortete: »Ich wusste: Das zweite Stadium beginnt mit dem Buchstaben L. Mir war das Wort Larve irgendwie entfallen. Na ja, und weil es sozusagen schon fast eine Biene ist, entschied ich mich für langsame Biene.«
Nun wanderte Herr Schönemanns Blick direkt zu mir. »So, Mareike – nun zu dir, deine Antwort lautet ebenfalls: ›Puppe, langsame Biene, Biene‹ Wie bist du denn darauf gekommen?«
Mir wurde heiß und kalt zur gleichen Zeit. Auf die Schnelle fiel mir nichts Besseres ein, als zu behaupten: »Ist doch klar, das war Gedankenübertragung.«
»Und dass du dir in der Aula bei jedem Test immer genau den Platz neben Suse suchst, ist dann deiner Meinung nach bestimmt ein Zufall!«
Die Arbeiten wurden ausgeteilt. In meinem Heft stand bei besagter Antwort ›siehe Suse‹ und bei ihr hatte Herr Schönemann die ›langsame Biene‹ durchgestrichen und ›Larve‹ darüber geschrieben. Ich fühlte mich sehr schlecht, beim Abschreiben ertappt – sozusagen entlarvt.
In der nächsten Stunde hatten wir Musik, wieder eine schreckliche Unterrichtsstunde bei dieser Matrone von Lehrerin. Sie gehörte zur Gattung Seekuh. Meist trug sie ›passend zu ihrem Gesicht‹ einen weißen Faltenrock. Sie brachte bestimmt zwei Zentner auf die Waage und stand kurz vor der Rente. Auch wenn sie aussah wie neunzig, konnte sie also erst kurz vor sechzig sein. Suse und ich hatten ein spezielles Lied für dieses Scheusal erfunden. Es lautete: »Die Tür geht auf, ein Fass rollt rein, das kann doch nur Frau Wilke sein.«
Wir konnten es sogar im Kanon singen. Suse und ich probten lauthals unser Lied, ohne dabei zu bemerken, dass das ›Fass‹ schon längst im Anrollen war. Mit Inbrunst und in voller Lautstärke wiederholten wir diesen genialen Refrain, als plötzlich Frau Wilke mit hochrotem Kopf vor uns stand.
Wir erstarrten. Sie fing an zu schreien und schon spürte ich einen gewaltigen Klatscher auf meiner linken Wange und sah, wie sich das Schauspiel blitzschnell auf Suses rechter Wange wiederholte.
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