Ein Vampir für jede Jahreszeit
stellte zudem fest, dass der Kerl Mirabeau anscheinend die Hälfte ihres Haares ausgerissen hatte. Zuerst glaubte er sogar, dass er sie skalpiert hatte, doch dann fiel ihm wieder ein, was Marguerite über den Friseurbesuch erzählt hatte, bei dem die Friseurin Mirabeaus grell gefärbte Strähnen hatte verschwinden lassen. So hatte sie es also gemacht: mit einem künstlichen Haarteil oder etwas Ähnlichem. Schnell richtete er den Lichtstrahl auf Mirabeau. An den Seiten hing ihr Haar glatt und dunkel herab, doch am Hinterkopf, wo eben noch der Haarknoten gesessen hatte, lugten jetzt pinkfarbene Strähnchen hervor.
Entsetzt starrte der Angreifer den Klumpen in seiner Hand an und hatte offenbar nicht begriffen, dass er ihr nur ein Haarteil abgerissen hatte. Dann traf ihn der Strahl von Tinys Lampe, er vergaß die Haare und konzentrierte sich auf die Lichtquelle. Tiny drehte schnell die Lampe um, damit der Mann seinen beeindruckenden Körper sehen konnte und murmelte: »Buh.«
Mehr war nicht nötig. Wie immer – zumindest, wenn Tiny es mit Sterblichen zu tun hatte – reichte sein äußeres Erscheinungsbild, um ein Gegenüber davon zu überzeugen, dass es unklug wäre, sich mit ihm anzulegen. Der Fremde quiekte vor Schreck, ließ den Haarknoten fallen, machte einige Schritte rückwärts und flüchtete in die Dunkelheit.
Tiny wartete, bis seine Schritte verhallten, und versuchte dann, Mirabeau beim Aufstehen behilflich zu sein. Sie zappelte auf dem nassen Boden herum. Ihr Kleid war vollkommen durchweicht und behinderte sie bei dem Versuch, sich aufzurappeln. Immer wieder plumpste sie in den Matsch zurück. Stephanie hatte Mund und Augen erschrocken aufgerissen und stand tatenlos daneben. Wahrscheinlich entsetzte sie vor allem die undefinierbare Masse, in der Mirabeau da herumrutschte. Tiny versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken, in was sie sich da suhlte und reichte Stephanie die Taschenlampe.
Die Kleine schaffte es, sich zumindest soweit zusammenzureißen, dass sie ihm die Lampe abnehmen konnte. Tiny schob sich vorsichtig an ihr und Mirabeaus zappelnden Beinen vorbei, packte Mirabeau von hinten unter den Achseln und hievte sie hoch.
»Vielen Dank«, knurrte Mirabeau außer Atem, als sie endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Tiny wartete nur so lange, bis sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, ließ sie dann los und trat schnell einige Schritte zurück. Er wusste zwar, er war gemein, aber er konnte nicht anders. Es war schon schlimm genug, in diesem stinkigen Schlamm herumzuwaten, aber Mirabeau hatte durch ihr Gezappel den Schlick aufgewühlt, und nun war der Gestank noch stärker und haftete geradezu an ihr. Die Frau, die er vorhin noch so scharf gefunden hatte, müffelte jetzt wie eine verstopfte Toilette, und das dämpfte sein Verlangen doch gehörig. Wahrscheinlich war es gar nicht so schlecht, denn schließlich hatten sie einen Job zu erledigen.
Tiny nahm Stephanie die Lampe wieder ab und leuchtete damit über Mirabeau und ihr Kleid. Es sah erschreckend aus. Hätte er es nicht vorhin noch auf der Hochzeitsfeier in seinem pfirsichfarbenen Urzustand gesehen, er hätte geglaubt, es wäre ein Zweiteiler aus einem pastellfarbenen Oberteil und einem schwarzbraunen Rock. Nicht nur Tiny begriff, dass es vollkommen ruiniert war. Mirabeau starrte an sich hinunter und sah noch entsetzter aus als Stephanie. Dann hob sie den Kopf und blickte sich wütend um. »Wo ist er?«, knurrte sie zornig.
»Abgehauen«, erklärte Tiny. Der Kerl hatte Glück, dass er sich rechtzeitig aus dem Staub gemacht hatte. »Es war nur ein Obdachloser. Er hat mich gesehen und ist geflüchtet.«
Es wunderte ihn nicht, dass sie auf diese Neuigkeiten eher mit Enttäuschung als Erleichterung reagierte. Sicher wäre sie dem Typen gern an die Gurgel gegangen. Mirabeau starrte Tiny böse an. Er wartete geduldig ab, ob sie ihre Wut und ihren Frust nun stattdessen an ihm ausließe. Schließlich stieß sie nur einen knappen Fluch aus und betrachtete angewidert ihre schlammverkrusteten Hände. Tiny wollte ihr schon großzügig sein Jackett als Wischtuch anbieten, doch sie fand selbst noch eine kleine, saubere Stelle an ihrem Kleid, die tatsächlich dem Schlammbad entgangen war. Er sah ihr schweigend zu, wie sie sich die Hände säuberte, und als sie schließlich wieder aufsah, lächelte er ihr aufmunternd zu.
Sie quittierte es mit einem Seufzen und meinte nur: »Wir sollten wohl lieber weitergehen.«
»Ja, das wäre besser«,
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