Feenring (German Edition)
1
Meine Wohnzimmeruhr zeigte zwei Uhr sechsundvierzig. Damit war nicht mehr Halloween, sondern Allerheiligen. Allerdings hielt mich kein Heiliger umschlungen – sondern ein Wærwolf.
»Ich glaube, meine Wohnung würde dir gefallen, Red.« Red. Das bin ich. Der Rest der Welt kennt mich als Persephone Alcmedi. Manche nennen mich Seph. Red bin ich nur für Johnny, meinen eigentlich gar nicht großen, bösen Wærwolf. »Ich führe ein offenes Haus.«
Ich ließ mich nicht täuschen. »Deine Wohnung ist doch bloß ein besseres Studentenwohnheim.«
»Wenn du damit sagen willst, dass ich ein eigenes Bad habe, dann ja.« Johnny rümpfte die Nase, als sei er sauer. »Etwas, das ich mit meinem Einzug hier aufgegeben habe.«
Um einer Freundin das Leben zu retten, hatte ich die Vampirabwehr meines Hauses drei Wochen zuvor aufgeben müssen, und Johnny war darauf fürs Erste auf den Speicher im dritten Stock gezogen – allerdings bloß als Aufpasser. Der Schutzbann war inzwischen wiederhergestellt, aber er war immer noch da. Doch da er der Inbegriff von groß, dunkel und gut aussehend war, hatte ich nichts dagegen einzuwenden.
»Na komm.« Johnnys tiefblaue Augen blitzten verführerisch. »Was gibt es Romantischeres als eine Junggesellenbude?«
Wir hatten einen abscheulichen Abend hinter uns. Attribute wie »anstrengend« oder »aufreibend« trafen es nicht mal annähernd. Trotzdem war ich anscheinend die Einzige, die hier auf dem Zahnfleisch ging.
Johnnys Band Lycanthropia hatte auf dem Halloweenball gespielt. Johnny war der Sänger und Gitarrist der Gruppe, die sich auf eine Mischung aus Techno, Goth und Metal spezialisiert hatte, und hatte sich auf der Bühne völlig verausgabt. Eigentlich hätte er genauso am Ende sein müssen wie ich.
Klar, ich hatte mich auf der Bühne auch ziemlich ins Zeug gelegt. Ich hatte vor Hunderten Zeugen, die anschließend applaudierten, weil sie das Ganze für einen Teil der Halloweenshow hielten, gegen eine Fee gekämpft und sie getötet.
Mörderische Feen und Rock ’n’ Roll: Das war bloß ein geringer Teil dessen, womit wir es an dem Abend zu tun bekommen hatten.
»Willst du mir wirklich jetzt deine Wohnung zeigen?«
»Da meine einzige Glühbirne durchgebrannt ist, wirst du nicht viel zu sehen bekommen.« Damit glitt sein schlanker, starker Arm um mich. Ach, wie fühlte ich mich in seinen Armen sicher und geborgen. »Aber das wäre eh nichts gegen das, was du spüren wirst, versprochen.«
Worauf Johnny hinauswollte, war klar, und dasselbe galt für den Grund, warum er für einen Ortswechsel plädierte. Ich hatte ihm längst von meiner Sorge erzählt, die übrigen Hausbewohner könnten herausfinden, dass wir zusammen waren, also gab er sich Mühe, das Geheimnis für sich zu behalten. In seiner Wohnung wären wir unter uns gewesen und hätten uns nicht wie hier in getrennte Schlafzimmer verdrücken müssen, und es wäre schon schön gewesen, nach dem Sex kuscheln und nebeneinander einschlafen zu können.
Anscheinend meinte er, wir könnten, solange man uns nicht zusammen sah, alles abstreiten. Nicht, dass meine im Haus wohnende Großmutter Nana uns abgekauft hätte, dass wir seiner Wohnung mitten in der Nacht einen Besuch abstatteten, bloß damit er mich dort mal herumführen konnte.
Nana und meine neun Jahre alte Pflegetochter Beverley schliefen – aber ihre Schlafzimmer lagen gerade mal über den Flur. Außerdem waren die Wände des alten Farmhauses dünn wie Pergament. Nicht mal die Dämmplatten zwischen der Decke des Obergeschosses und dem Fußboden des Speichers darüber reichten aus, um Schall zu schlucken. Ich hatte Johnny da oben schon Gitarre spielen hören, wenn er seinen mickrigen Verstärker nicht mal auf eins aufgedreht hatte.
Allerdings hatte ich ihm noch nicht alles gesagt. »Bei Sonnenaufgang schlägt der Lucusi hier auf, Johnny.«
Er zog mich an sich. Er hatte nach dem Auftritt geduscht und den Geruch seiner verschwitzten Bühnenklamotten aus Leder abgewaschen, bis nur sein einzigartiger Duft nach Zedern und Salbei zurückgeblieben war. »Einen Versuch war’s wert.«
Sein Atem strich warm über meinen Hals, seine Stimme fuhr so rau in mein Ohr, dass ich bis in die Zehenspitzen hinab erschauerte. Ein Teil von mir bestand plötzlich darauf, ganz und gar nicht ermattet zu sein, sodass ich die Bedeutung des Wortes Ermattung neu überdenken musste. »Die Fahrt in die Stadt dauert einfach zu lang, und wenn wir bei Sonnenaufgang wieder hier sein wollen, müssen wir
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