Ein Vampir für jede Jahreszeit
dem Gewirr aus Gängen nicht zu verlieren.
Sie fragte sich, weshalb sich Lucian einen so komplizierten Fluchtweg ausgedacht haben mochte, obwohl doch er und all die anderen sich oben in der Registratur aufhielten, von der auch der geheime Zugang zu den Abwasserkanälen ausging. Doch dann begriff sie, dass die Hochzeitsgesellschaft nicht endlos in dem Zimmer bleiben konnte, ohne Verdacht zu erregen. Falls Leonius oder einer seiner Männer tatsächlich gewagt hatte, sich in die Zeremonie einzuschleichen, würde die übermäßige Verzögerung bestimmt auffallen – und möglicherweise auch, dass Stephanie das Zimmer nicht mehr verlassen hatte. Die Schlitzer würden wahrscheinlich in die Köpfe der Gäste eindringen und nach einer Erklärung suchen.
Zwar schaffte es kaum jemand, Lucians Gedanken zu lesen, aber auch der Rest der Hochzeitsgesellschaft war Zeuge gewesen, als Mirabeau das Zimmer betreten hatte, um als Trauzeugin von Marguerite und Julius ihre Unterschrift zu leisten. Im Anschluss hatte Lucian ihren Arm genommen, sie zu dem geheimen Gang geführt und ihr erklärt, dass ihr Partner für die Mission mit der zweiten Zeugengruppe ins Zimmer kommen und ihr in Kürze mit dem Päckchen folgen würde. Die anderen Zeugen hatten wortlos dabei zugesehen. Viele von ihnen waren schon älter, und es wäre schwierig, in ihren Geist einzudringen. Doch ebenso viele waren Neuzugänge, und in deren Geist konnte man auch gegen ihren Willen lesen – wie in einem offenen Buch. Mirabeau begriff, dass ihre Gegenspieler schnell herausfinden würden, wo Stephanie McGill geblieben war. Sie hatten schon zu lange herumgetrödelt. Es wurde Zeit zum Aufbruch.
Tiny war anscheinend der gleichen Ansicht, denn er schlug den Block zu, stopfte ihn in die Tasche und leuchtete mit der Taschenlampe in den Gang, der sich vor ihnen erstreckte. »Wir sollten losgehen. Wir passieren die nächsten drei Abzweigungen und biegen dann bei der vierten nach rechts ab.«
Mirabeau nickte, raffte den Rock ein Stückchen und wandte sich dann in die Richtung, in die Tiny gewiesen hatte. »Ich gehe voran. Stephanie, du bleibst zwischen uns, und Tiny bildet die Nachhut.«
»Brauchst du eine Taschenlampe?«, fragte Tiny. Mirabeau wandte sich nach ihm um, und sofort erschien ein ironisches Grinsen auf seinen Lippen. Ihre Augen reflektierten das schummerige Licht, das hier unten herrschte, wie die einer Katze und schimmerten bronzefarben. »Ach ja, natürlich brauchst du keine. Zeig uns den Weg.«
Dieser Tiny war für einen Sterblichen ganz schön clever, dachte Mirabeau und trat in den Tunnel, wobei sie sorgsam darauf achtete, dass ihr Rocksaum nicht durch den Matsch am Boden schleifte.
Schweigend marschierten sie los. Mirabeau führte sie durch die verschlungenen Gänge an den ersten beiden Abzweigungen vorbei. Plötzlich fiel ihr etwas ein. Wenn ihnen Gefahr drohte, dann würde sie von hinten zuschlagen. Den sterblichen Tiny die Nachhut bilden zu lassen, war wohl keine so gute Idee gewesen, denn es wäre wirklich eine Schande, wenn diesem Prachtexemplar von einem Kerl etwas zustieße. Und sicher wäre auch Marguerite nicht begeistert, würde er sterben. Andererseits hieße sie es aber auch bestimmt nicht gut, wenn Mirabeau seine Gefühle verletzte, denn sie mochte ihn offenbar sehr gern. Ach, diese sterblichen Kerle waren immer so empfindlich, wenn sie ihre Männlichkeit infrage gestellt sahen und nicht den starken Beschützer spielen durften. Um mit ihm den Platz zu tauschen, würde sie ihn wohl überlisten müssen.
Beim dritten Seitengang blieb Mirabeau stehen und drehte sich um.
3
Tiny grübelte über Marguerites Andeutung nach, dass er womöglich Mirabeaus Lebensgefährte sein könnte. Jetzt, da er die Frau persönlich kannte, faszinierte ihn diese Aussicht. Im Geiste suchte er gerade nach Argumenten, weshalb er lieber nicht so empfinden sollte, als Stephanie ganz plötzlich stehen blieb. Sofort waren seine Nerven gespannt, und er suchte die Umgebung automatisch nach einer möglichen Bedrohung ab, stellte jedoch schnell fest, dass Mirabeau ohne Grund stehen geblieben war und jetzt auf ihn zukam. Sie sah weder angespannt noch alarmiert aus, und Tiny beruhigte sich. Etwas schien sie zu bedrücken, und als sie sich an ihn wandte, klangen ihre Worte gestelzt: »Ich glaube … es wäre wahrscheinlich besser, wenn doch du uns führst. Hier drin ist es schon sehr dunkel, und du hast eine Taschenlampe.«
Tiny betrachtete zuerst die Lampe in seiner Hand und
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