Ein verführerischer Schuft
Brüder. Auf der einen Seite war Alicia überglücklich; dies - dieses Haus, dieses Gefühl von Zugehörigkeit, umsorgender Freundlichkeit, das war der Stoff, aus dem ihre Träume gemacht waren. Aber ihre Gedanken schossen wild durcheinander - sie konnte es nicht akzeptieren, sich nicht darüber freuen, weil sie sich immer noch nicht sicher war in Bezug auf Tonys Absichten.
War sie in seinen Augen immer schon seine zukünftige Frau gewesen? Sah er sie auch jetzt noch so?
Marie führte sie in eine lange Gemäldegalerie.
»Die Familie Blake. Um die meisten müssen wir uns nicht kümmern, aber hier - hier sind die Porträts, die helfen, alles in einem klareren Licht zu sehen.«
Sie blieb vor den letzten drei Gemälden stehen. Das erste zeigte einen Herrn Mitte zwanzig, der nach der Mode der letzten Generation gekleidet war.
»Tonys Vater, der letzte Viscount.«
Das mittlere Bild war von einem Paar - Marie selbst und der Gentleman von eben, ein paar Jahre älter.
»Hier ist James wieder, jetzt als mein Gatte.« Sie ging zum letzten Gemälde weiter.
»Und dies hier ist Tony mit zwanzig. Jetzt sehen Sie es sich an und sagen Sie mir, was Ihnen auffällt.«
Eine Sache war offenkundig.
»Er sieht Ihnen überaus ähnlich.«
» Oui - er sieht wie ich aus. Nur seine Größe und seine Figur hat er von James geerbt, aber das fällt nicht weiter auf. Er wirkt französisch, das sieht man sofort, aber nur an der Oberfläche.«
Marie sah Alicia in die Augen.
»Was einen Mann ausmacht, wie er sich verhält - das wird nicht von Äußerlichkeiten bestimmt.«
Alicia sah sich wieder das Porträt an.
»Sie wollen sagen, dass er im Innern mehr seinem Vater gleicht?«
»Sehr sogar.«
Marie hakte sich bei ihr unter; sie drehten sich um und schlenderten die Galerie zurück.
»Bei allem, was nicht tief geht, ist er sehr französisch. Wie er sich bewegt, seine Gesten - und er spricht Französisch mindestens ebenso gut wie ich, wenn nicht sogar besser. Aber in dem, was er sagt, hört man immer James, jedes Mal und ohne Ausnahme regiert das Englische in ihm. Also ist die Antwort auf die Frage, ob er sie von Anfang an heiraten wollte oder nicht, klar.«
Mit einer Handbewegung, die alle Ahnengemälde einschloss, sagte Marie:
»Sie sind selbst Engländerin. Sie kennen sich mit Ehre aus. Die Ehre eines Gentlemans - eines echten englischen Gentlemans -, das ist etwas, was nicht angetastet werden darf. Etwas, was das Verhalten bestimmt, die Richtung vorgibt, worauf man sein Leben setzt und auch sein Herz.«
»Und das ist es, was Tonys Handeln bestimmt?«
»Das ist es, was in seinem Herzen ist, eine Art Ehrenkodex, der ihm in Fleisch und Blut übergegangen ist, sodass er nicht einmal innehält und darüber nachdenkt.«
Marie seufzte.
» Ma petite , Sie müssen begreifen, dass es weniger eine absichtliche Unterlassung ist, als mehr etwas, was er übersehen hat. Er wollte es Ihnen bestimmt die ganze Zeit schon sagen, Sie bitten, seine Frau zu werden. Für ihn ist sein Kurs so offensichtlich, dass er wie die meisten Männer einfach davon ausgeht, dass Sie es so klar vor sich sehen wie er.«
Sie waren am oberen Treppenende angekommen. Alicia blieb stehen. Nach einem Moment erklärte sie fest:
»Er hätte etwas sagen können - wir sind seit Wochen ein Liebespaar.«
»Oh, sicher hätte er etwas sagen müssen , da widerspreche ich Ihnen nicht.«
Marie sah sie an, runzelte die Stirn.
» Ma petite , indem ich Ihnen das hier erkläre, möchte ich nicht, dass Sie glauben, ich riete Ihnen, dass Sie - wie sagen die Engländer? - ihn einfach so und ohne Weiteres von der Leine lassen.«
»Vom Haken«, verbesserte Alicia sie geistesabwesend. Sie versuchte sich einzureden, dass sie nicht leicht wütend wurde. Es erzürnte sie doch bestimmt nicht, dass er sie heiraten wollte - und zwar von Beginn an, dass er ihre Einwilligung als gegeben vorausgesetzt hatte, so sehr, dass er es noch nicht einmal für nötig befunden hatte, es zu erwähnen. Oder? Sie holte tief Luft. Spürte, wie sie die Zähne fest zusammenbiss.
»Nein, ich werde ihn nicht …«
Die Jungen kamen unten in die Halle gestürmt. Als sie sie mit Marie oben entdeckten, liefen sie die Stufen hoch; falls sie der Countess gegenüber so etwas wie Schüchternheit verspürt hatten, war sie eindeutig verflogen. Ein lauter, fröhlicher Bericht über den herrlichen Angelausflug zum Fluss sprudelte über ihre Lippen.
Sowohl Alicia als auch Marie lächelten und nickten. Schließlich aber
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