Ein verhängnisvoller Auftrag Meisterspionin Mary Quinn I
– falls man nachweisen konnte, dass es ihres war – zeigte nur, dass sie Geschäfte machte. Es enthielt keinerlei konkrete Hinweise, und es gab nichts, was sie mit dem Laskarenheim in Verbindung brachte, außer der codierten Adresse. Aber dennoch – tief in Marys Kopf – passten die Puzzleteile zusammen. Sie konnte immer noch nicht sagen, warum sie so sicher war, dass hier die Antwort lag. Und doch setzte sie mehr auf ihren Instinkt als auf Logik, auf ihr Bauchgefühl statt auf Anweisungen.
Sie entdeckte sie, kaum, dass sie um die Ecke bog: eine Rauchfahne, die aus einem der hohen, schmalen Häuser am Ende der Straße aufstieg. Eine kleine Menschenmenge hatte sich vor den Gebäuden eingefunden. Sie sahen dem Feuer wohl lieber zu, als es zu löschen.
Mary fing zu laufen an. »Wie lange brennt das schon?«, fragte sie eine rundliche ältere Frau, die ihr am nächsten stand.
»Bin grade selbst erst gekommen.« Die Frau klang unbeteiligt und gelassen. Sie verschränkte die Arme über der fleckigen Schürze und schien sich über das Schauspiel zu freuen.
Mary schob sie aus dem Weg und drängte sich durch die Menge. »Ist da jemand drin?«, rief sie.
Die Gesichter um sie herum sahen sie verständnislos an.
»Du da.« Mary sprach ein in einen Schal gewickeltes Mädchen an, das barfuß war und aussah, als sei es gerade aus dem Bett gefallen. »Hat jemand nachgeschaut, ob da noch jemand drin ist?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Dazu ist es zu spät.« Sie streckte die Hand aus. »Sehen Sie, wie schnell es sich ausbreitet?« Und tatsächlich, aus dem nächsten Fenster drangen auch schon Flammen.
»Wer wohnt denn nebenan?«, fragte Mary verzweifelt. »Die wollen doch sicher, dass das Feuer gelöscht wird.«
Das Mädchen sah sie mit schläfrigen, aber intelligenten Augen an. »In dem Loch? Warum sollte sich da jemand drum kümmern?« Wie um ihre Worte zu bekräftigen, warf jemand einen Ziegelstein durch eins der unteren Fenster, und die Menge jubelte laut.
Mary blickte verzweifelt auf das Gebäude. Da war doch bestimmt niemand mehr drin. Die alten Seeleute wurden zumindest jeden Morgen hinausbefördertund Mr Chen war umsichtig und vernünftig. Er würde sein Leben nicht aufs Spiel setzen, um ein paar Habseligkeiten zu retten – auch nicht die Zigarrenkiste. Und dennoch … trotz dieser vernünftigen Überlegungen war sie immer noch nicht überzeugt. Sie warf einen letzten forschenden Blick in die Menge – es war kein Polizist in der Nähe – und stürzte sich in das Gebäude.
Siebenundzwanzig
I nnen hatte sich die Feuersbrunst noch nicht überall ausgebreitet. Die feuchte, dämmrige Diele und die Flure sahen fast genauso aus, wie Mary sie in Erinnerung hatte, abgesehen von dem leichten Rauchschleier. Das Feuer musste wohl weiter oben im Haus ausgebrochen sein. Sie fing mit Mr Chens Büro an und registrierte fast mechanisch, dass es durchwühlt worden war. Rasch suchte sie das Durcheinander nach der Zigarrenkiste ab, merkte aber bald, dass es vergebens war. Sie hätte eigentlich verzweifelt und empört sein und den Raum hektisch durchkämmen sollen. Aber dafür war keine Zeit. Sie musste nachsehen, ob sich noch jemand im Gebäude befand, ehe sie sich um Papiere sorgte – selbst wenn sie so wichtig waren –, und sie war froh über die tranceartige Vernunft, die sie ergriffen hatte.
Im ersten Stock wurde der Rauch dichter und sie bückte sich tief und hielt sich das Taschentuch über Mund und Nase. Hier würde sie zuletzt nachsehen. Das Feuer kam von oben, sie musste dorthin, solangenoch Zeit war. Der zweite Stock war in dicken Rauch gehüllt und Mary war jetzt gezwungen zu kriechen. Sie verfluchte ihren Reifrock, der ihr bei jeder Bewegung die Knie zerkratzte. Aus den Fenstern der beiden vorderen Zimmer war der Rauch gedrungen. Im ersten Zimmer war niemand. Im zweiten auch nicht. Der Rauch brannte ihr in den Augen und in der Lunge. Ihr Taschentuch hatte sie irgendwo verloren.
Sie kroch zum hinteren Teil des Gebäudes und fand eine geschlossene Tür, unter der Rauch hervorquoll. Der Türknopf war heiß, aber da sie Handschuhe trug, konnte sie ihn noch anfassen. Als sie die Tür vorsichtig aufstieß, machte sie sich auf einen Hitzeschwall gefasst, auf Flammen, die ihr entgegenschlugen. Stattdessen wurde sie fast von einer dicken grauen Rauchwolke umgehauen. Hustend und mit tränenden Augen hielt sie kurz inne, dann wandte sie sich dem Raum zu. Als der Rauch in den Flur
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