Ein verhängnisvoller Auftrag Meisterspionin Mary Quinn I
dankbar, dass Sie mich vor dem Galgen bewahrt haben, und auch für die Ausbildung, die ich hier erhalten habe. Ich stehe ganz und gar in Ihrer Schuld, wortwörtlich. Aber ich habe mir Gedanken über meine Zukunft gemacht und – ich würde gerne – das heißt, ich glaube nicht …« Mary kam ins Stocken. Ihre sorgfältig vorbereitete Rede löste sich vor den ernsten, neugierigen Blicken der beiden in Luft auf.
Sie nahm einen Schluck von dem kochend heißen Tee.
Warum wurde heute ein besonderer Tee serviert?
Ein überwältigendes Schuldgefühl veranlasste sie dazu, schnell und offen weiterzureden. »Was ich sagen will, ist, dass ich mir seit einiger Zeit in Bezug auf meine Stellung als Hilfslehrerin nicht sicher bin. Obwohl ich gerne hier im Institut lebe, weiß ich, dass ich meine Arbeit nicht richtig gut mache. Ich mag die Mädchen zwar, aber ich bin nicht geduldig genug, um Lehrerin zu sein.«
Ohne aufzusehen fuhr sie rasch fort. »Und es kommt leider noch schlimmer. Vor zwei Jahren habe ichKurzschrift und Tippen gelernt, aber die eintönige Arbeit einer Bürokraft sagt mir gar nicht zu. Letztes Jahr habe ich mit einer pflegerischen Ausbildung angefangen, um möglicherweise Krankenschwester zu werden. Aber die Schwestern trauten mir nicht genug zu und haben mich nicht ermutigt, weiterzumachen.« Sie schluckte, denn diese Niederlage hinterließ immer noch einen bitteren Nachgeschmack in ihrem Mund. »Und seit einiger Zeit frage ich mich: Ist es nicht möglich – unter Umständen –, von seiner Arbeit etwas mehr zu erwarten?«
Miss Treleaven sah sie mit sanfter Aufmerksamkeit an. »Was meinst du mit ›etwas mehr‹?«
Mary wand sich innerlich. »Es klingt dumm, ich weiß … Ich meine, dass man stolz ist auf seine Arbeit und sich aktiv dafür interessiert … oder sogar Spaß daran hat. Möglicherweise Befriedigung daraus zieht?« So, nun war es heraus. Undankbar, wie sie war, hatte sie es gesagt.
Es entstand ein kurzes Schweigen, aber auf den beiden Gesichtern zeigte sich weder ein Hauch von Überraschung noch von Enttäuschung. Miss Treleaven nahm als Erste das Wort auf. »Wie lange hast du die jüngeren Schülerinnen jetzt unterrichtet, Mary?«
»Ein Jahr lang; ich habe angefangen, als ich ungefähr sechzehn war.«
»Und wie wir wissen, wohnst du hier in der Schule, seit du zwölf bist.«
»Seit dem Tag, an dem Sie mich aus dem Old Bailey gerettet haben.« Mary wurde rot. »Zumindest warich ungefähr zwölf … wie Sie wissen, besitze ich keine Geburtsurkunde. Aber ich bin sicher, dass ich 1841 geboren wurde.«
»Fast ein Drittel deines Lebens hast du also bei uns verbracht.«
Mary nickte. »Ja. Ich weiß, dass ich mich bestimmt schrecklich undankbar anhöre.«
Ein schwaches Lächeln umspielte Miss Treleavens Lippen, war aber alsbald wieder verschwunden. »Lassen wir die Frage der Dankbarkeit mal außer Acht. Du bist jetzt siebzehn. Und du hast das Gefühl … dass dich die Unterrichtsroutine … erstickt.«
Mary nickte. »Ja.«
»Möchtest du lieber wieder in das Leben zurückkehren, das du geführt hast, ehe du im Gefängnis gelandet bist? Hauseinbrüche? Taschendiebstahl?«
»Nein!« Mary merkte, dass sie das Wort fast geschrien hatte. Sie mäßigte ihre Stimme. »Auf keinen Fall. Aber ich wünsche mir ein bisschen Selbstständigkeit … eine andere Art von Arbeit.«
»Aha.« Wieder glitt ein zufriedenes Aufglimmen über Miss Treleavens Züge. »Was für eine Arbeit stellst du dir denn vor?«
Mary schüttelte unglücklich den Kopf. »Genau das weiß ich ja nicht. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir vielleicht einen Rat geben.«
Zum ersten Mal mischte sich Felicity Frame in das Gespräch ein. »Bist du denn ganz sicher, dass du überhaupt arbeiten willst? Manche Mädchen möchten lieber heiraten, um der Armut zu entkommen.«
Mary schüttelte entschlossen den Kopf. »Nein. Das Bedürfnis zu heiraten habe ich überhaupt nicht.«
»Es gibt auch Frauen, die sich einen Liebhaber nehmen, um versorgt zu sein.«
Mary ließ vor Verblüffung fast ihre Teetasse fallen. »Mrs Frame! Sie wollen mir doch nicht im Ernst empfehlen …«
Mrs Frame lächelte leicht. »Ich empfehle gar nichts. Aber ich will die üblichen Moralvorstellungen mal beiseitelassen und von praktikablen Möglichkeiten sprechen. Du bist zwar keine klassische Schönheit, aber du bist intelligent und ziemlich … auffallend. Fast exotisch. Eines Mannes Geliebte zu werden ist eine
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